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Vorwort
zur Neuauflage
Felix
Draesekes Kammermusik nimmt im Gesamtschaffen einen durchaus
gleichberechtigten Rang neben Sinfonik, Chor- und Opernschaffen
ein. Drei Streichquartette, Sonaten und Suiten für unterschiedliche
Besetzungen mit Klavier sowie drei Quintette liegen vor.
Bei
dem hier in einer Neuauflage vorgelegten Quintett für
zwei Violinen, Viola und zwei Violoncelli F-Dur op. 77 handelt
es sich um ein Alterswerk Draesekes, der in seinem Spätstil
hohe Meisterschaft der kompositorischen Mittel mit einer reifen
Abgeklärtheit in der Darstellung von Seelenzuständen
verbinden konnte. Vor diesem Hintergrund ist das Quintett op.
77 besser zu verstehen. Der offensichtliche Gegensatz zwischen
der in düsteren Farben gehaltenen Einleitung und der Thematik
der Sätze wird einleuchtender. Das Werk ist Draesekes
letzte große Kammermusik und es entstand um die Jahreswende
1900 / 01, also in der Nähe seiner großen und berühmten
Alterswerke, des Mysteriums "Christus" und der Oper "Merlin";
der "Christus" lag schon abgeschlossen vor, "Merlin" war
soeben begonnen (1905 dann vollendet). Vollendet wurden vom
Quintett op. 77 der 1. Satz am 5. November 1900, der 2. Satz
am 25. Januar 1901, der 3. Satz am 11. Januar 1901 und der
4. Satz am 16. Februar 1901. Die Uraufführung des vollständigen
Werkes erfolgte am Sonnabend, dem 13. Juni 1903, in Basel in
einer Matinee der 39. Tonkünstler-Versammlung des Allgemeinen
Deutschen Musikvereins nach dem Manuskript. Eine weitere Aufführung
folgte am 28. Dezember 1903 in Dresden. Im Druck erschienen
Partitur und Stimmen im August 1903 bei N. Simrock, Berlin.
Die
Einleitung ist thematisch-harmonische Keimzelle des Werkes.
Es ist ein hervorstechendes Merkmal in Draesekes Schaffen,
dass er um das Ganze eine Klammer schließt, die aus einem
Grundgedanken gewonnen wurde. Dies zeigen schon die frühen
Werke (Klaviersonate u. a.) wie
auch solche aus der späteren
Schaffenszeit (Sinfonia tragica.
Auch beim Requiem op. 22, das die Reihe der großen Chorwerke
einleitete, herrscht das Prinzip vor, aus einem Grundgedanken
das ganze Werk zu
formen.
Die
13 Takte der Einleitung (langsam und düster)
lassen nicht ahnen, dass ein im Grunde heiter gestimmtes Werk
beginnt.
Was sich dann aus dem einsam einsetzenden Cis der Viola entwickelt,
zeigt den Meister auf der Höhe seiner Kunst. Die alterierte
Quinte Cis, mit der das Hauptthema in charakteristischer Wendung
beginnt, ist hier vorgebildet. Das 1. Thema ist sanglich und
von einfacher Lyrik. Denkt man einmal daran, dass Humor die Frucht
oft schwerer Erschütterungen ist, so könnte man die
Einleitung und das sich daraus Entwickelnde als ein Abbild davon
ansehen. - Mit quälenden Vorhalten erheben sich die ersten
Töne von dem erwähnten Des zur höheren Oktave;
im 2. Takt wird die motivische Verwandtschaft zum späteren
Hauptthema offensichtlich; der 4. Takt bringt den Tonbereich
der neapolitanischen Sexte ins Spiel, was für den langsamen
Satz bedeutsam wird, und schließlich ist mit dem
Drei-Ton-Motiv im 9./10. Takt das Kopfmotiv des 1. Finalthemas
vorgebildet. Wie aus einer Knospe erblüht aus den Einleitungstakten
später das ganze Werk. Außerdem werden sie im Gang
der Ecksätze noch einige Male zitiert, was Draesekes Absichten
klar unterstreicht.
Nach
13 Takten Einleitung setzt der 1. Satz mit dem Hauptthema ein
(4/4, F-Dur, noch einmal so schnell, aber ruhig), welches wiederholt
wird. Es wird aus zwei synkopischen Melodiebögen gebildet
und mit einer Weiterführung auf acht Takte erweitert.
Es folgt eine Modulation in die Dur-Parallele (D-Dur), in der
das 2. Thema angestimmt wird. Diesem geben scharf rhythmisierte
Sexten ein etwas anderes Profil, obwohl es seinen lyrischen
Grundton behält, was mit Seufzer-Motivik und Orgelpunkt
unterstrichen wird. Gegen Ende der Exposition wird noch ein
3. Thema eingeführt. Seine ruhig fließenden Achtel
runden das thematische Material ab. Aus ihm gewinnt Draeseke
jene Tonwiederholungen, die schon aus der Einleitung ins Allegro
hinüberführten. Mit dem Zitat des Kopfmotives endet
die Exposition, und die Durchführung beginnt. Im nun folgenden
Abschnitt gewinnt ein Subdominant-QuintsextAkkord Bedeutung;
er kommt zweimal vor (Takt 83 und 87). Seine zweite Auflösung
bringt die völlig unerwartete Wendung nach Es-Dur, in
welcher Tonart das 3. Thema erscheint. Bevor die Rhythmik durch
Sechzehntel eine gewisse Beschleunigung erfährt, taucht über
dem verkürzten Kopfmotiv im Bass (Takt 92) ein ähnlich
kühner modulatorischer Vorgang wie in der Einleitung (Takt
11) auf. Er bringt das Geschehen nach Des-Dur und lässt
das 2. Thema erklingen. Die Durchführung ist mit 41 Takten
eigentlich kurz. In Takt 109 beginnt die Reprise; das Hauptthema
erscheint versteckt im 2. Violoncello und wird dann durch die
Stimmen in höhere Lagen geführt. Im ganzen Wiederholungsteil
erscheint die Folge der 3 Themen erneut, allerdings mit einer
Gewichtsverlagerung auf das 2. Thema. Hervorzuheben ist die
schöne Art, wie nun aus der Motivik des Hauptthemas die
Einleitung herbeigeführt wird, die mit ihren düsteren
Anklängen sich hier wieder meldet. Nach einer Wendung
in ges-moll wird das Kopfmotiv zitiert und ein rascher Schluss
erzielt.
In
Draesekes Werken befinden sich bemerkenswerte Scherzi, die
für ihn typisch sind: nämlich solche im geraden
Takt, und man findet sie in der 1. und 2. Sinfonie sowie
in der Kammermusik.
Das folgende Scherzo (l14, F-Dur, sehr schnell und prickelnd)
gehört in diese Reihe glanzvoller Stücke voll übersprudelnden
Humors.
Das
Thema ist 5-taktig. Dass es dem Hauptthema verwandt ist, wird
klar am Spitzenton Cis nach der 1. Sechzehntelkette.
So
erhält die vormals klagende, später lyrische Wendung
nun eine Variierung ins Humorvoll-Witzige. Die drei folgenden
Pizzikato-Takte machen den Ulk vollständig. Der ganze
erste Teil des Satzes lebt von diesen Motiven. Ein 2. Teil
(dem Trio
entsprechend) bringt etwas Beruhigung. Einige Überleitungstakte
führen zu einer getragenen und ausdrucksvollen Weise,
die sich als abgewandeltes 2. Kopfsatz-Thema entpuppt. Dabei
fehlt
auch der früher erwähnte Orgelpunkt nicht. Die
Triolen-Motivik unterstreicht den freundlichen, fast pastoralen
Charakter dieses
Zwischenteils. Zwei Überleitungstakte bilden das Bindeglied
zur Wiederholung des Scherzos.
Jene
bereits erwähnte
Rückung in die Tonart der neapolitanischen
Sexte (siehe 4. Takt der Einleitung) gibt das harmonische
Gerüst
für das zarte Thema des 3. Satzes (4/4, f-moll, langsam
und getragen). In zwei großen Melodiebögen wird
jeweils eine Oktave abwärts durchschritten und der
2. Bogen steht in Ges-Dur. Ein zweimalig aufsteigendes
Achtel-Motiv
antwortet.
Dieses viertaktige Thema wird vom 1. Violoncello wiederholt.
Nach einigen Überleitungstakten wird ein zweiter Gedanke
eingeführt (12/8) und von der 1. Violine bis in die
höchsten
Lagen getragen. Eine neue fließende Begleitfigur
kontrapunktiert das 1. Thema - als Steigerung nun von 1.
Violine und 1. Cello,
später sogar von den drei Mittelstimmen gemeinsam
vorgetragen. Gleich darauf setzt das 2. Thema über
Synkopen ein, und nach einer harmonisch ungewöhnlich
dichten Verarbeitung wird mit dem fallenden Tonleitermotiv
der Satz zu Ende gebracht.
Die von der Viola begleitete 1. Violine spielt das lyrische
Hauptthema zum letzten Mal, bevor eine kräftige Dominante
den Schluss fordert; und wie im Rückblick spielt in
diesem Schluss jenes Des wieder seine bestimmende Rolle.
Der Satz schließt auf
einem Unisono- F.
Das
Finale beginnt mit der düsteren
Einleitung des 1. Satzes (4/4, langsam und düster).
Doch nun wird aus dem Material ein ganz anderes, im Charakter
aufstrebendes und energisches
Thema gewonnen. Diese Wendung wird durch Wiederholung gefestigt.
Dann erscheinen Triolen, die dem Finale sein dahinjagendes
Gepräge
geben, und führen das Allegro nach vorherigem Accelerando
herbei. Dieser Schluss-Satz (rasch und feurig) hat mehr
die Form eines Rondos - dem markanten Hauptthema folgt
eine Reihe weiterer
Themen. Das erste ist viertaktig und wird wiederholt. Nach
der kurzen und überraschenden Wendung nach D-Dur wird
schon das 2. Thema (graziös) eingeführt; es ist
zweitaktig und wird ebenfalls - in symmetrischer Anordnung
- wiederholt.
Dann tritt das Finalthema wieder auf, gefolgt von einem
ausführlichen
Modulationsteil, der zum Eintritt des 3. Gedankens führt,
der mit seiner viertaktigen Anlage und lyrischem Ton wohl
als eigentlicher Gegensatz zu verstehen ist - wie sich
in der Folge
auch zeigt. Zunächst tritt gleich danach aber das
4., wieder kürzere Thema ins Geschehen ein, womit
alle Themen im Spiel sind. Es folgen zwei interessante
Takte insofern, als sie im
rhythmischen Gewand des Kopfsatzthemas erscheinen. Dann
führen
die beiden zuletzt gebrachten Gedanken zu einer überraschenden
Begegnung mit dem Hauptthema aus dem 1. Satz, enggeführt
zum Bass und in strahlendem Fortissimo, und sofort danach
wird es vom Finalthema sozusagen eingeholt und die beiden
Hauptthemen
der
Ecksätze treten zusammen auf. Zweifelsohne liegt hier der
dramatische Höhepunkt des ganzen Quintetts. In einem längeren
Teil herrscht nun das graziöse 2. Thema vor.
Wuchtige
Akkorde über scharfen Bass-Achteln zeigen das Hauptthema
erneut. Die vier Überleitungsnoten im Piano, die schon
vorhin das graziöse 2. Thema einführten, gewinnen
plötzlich an Bedeutung, wenn der Komponist mit dieser
Wendung schließlich wieder den "Ur-Ton" Cis
erreicht und damit zum letzten Male die Einleitung erklingen
lässt.
Nach diesem Ruhepunkt werden die Themen nochmals in enger Folge
durchgeführt, und ähnlich wie in der Sinfonia tragica
löst sich das markante Finalthema nach seinem letzten Auftrumpfen
sozusagen in seine Bestandteile auf. Breite Pianissimo-Harmonien über
den weiter hastenden Triolen des 2. Cellos führen abschließend
in das Zitat des Haupt-Themas von diesem Quintett. Nach einer
schlichten Kadenz verklingt Draesekes letzte große Kammermusik
in verklärter Zartheit aus. Der
Verlag Walter Wollenweber, München-Gräfelfing, hat
in seiner Reihe UNBEKANNTE WERKE DER KLASSIK UND ROMANTIK schon
vielfach sein Engagement auch für Werke von Felix Draeseke
unter Beweis gestellt. Zuletzt erschien 1990 in Zusammenarbeit
mit der Internationalen Draeseke-Gesellschaft e. V. Coburg
das Streichquartett Nr. 2 op. 35, welche Neu-Edition ein breites
Interesse gefunden hat. Auch an den Neudruck des hiermit vorgelegten
Streichquintetts op. 77 knüpft sich die Hoffnung auf ein
breites Interesse an der Kammermusik Felix Draesekes ebenso
wie der in bewusster Absicht erfolgte Hinweis auf das Gesamtwerk
eines Komponisten, der im Umfeld von Richard Wagner und Franz
Liszt seine Eigenständigkeit vielfach bewiesen hat. Draesekes
Jugendfreund Hans von Bülow hat in einem anderen Zusammenhang
ein Wort geprägt, das hier wiederholt werden darf: "...
Alles, was dieser Komponist bisher der Öffentlichkeit übergeben
hat, ist nur geeignet gewesen, ihm die Hochachtung und die
Sympathie der Gebildeten zu erwerben. Er hat vollen Anspruch
darauf, von vornherein mit dem einem Meister geziemenden Respekt
behandelt zu werden. Wo ihm dieser versagt wird, ist eine Lücke
in der Kenntnis der Musikliteratur anzunehmen und der Rat,
selbige baldigst auszufüllen, am Platze. Der Komponist
hat mit Arbeiten debütiert, die eine solche Reife des
Geistes, einen so seltenen Fonds von Wissen und Können
offenbaren, dass die Unbekanntschaft mit demselben nur einem
Dilettanten zu verzeihen ist!"
Vorzüglichen Dank für das Zustandekommen dieser Edition
schuldet die Internationale Draeseke - Gesellschaft e. V. in
erster Linie der Niederfüllbacher Stiftung, sodann aber
auch der Musikabteilung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe,
welche die Originale des Erstdruckes der Stimmen von 1903 zur
Verfügung stellte. Die Partitur wird in einem Neustich
vorgelegt. © Udo-R.
Follert 1992/2003
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