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Mit dem vorgelegten Neudruck der Sonate Cis-Moll Op. 6 von Felix Draeseke wird ein in zweifacher Hinsicht bedeutsames Klavierwerk des 19. Jahrhunderts der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Einmal handelt es sich um die wichtigste Klavierkomposition Draesekes selbst, zum andern ist diese Sonate auch ein Werk, das im Kreise der Liszt-Schüler, der sogenannten Neudeutschen Schule, einen hohen Grad an Eigenständigkeit für sich beanspruchen darf. Während die Klaviersonate des viel zu früh verstorbenen Julius Reubke dem Vorbild des großen Meisters Liszt sehr nahe kommt, löst sich Draeseke deutlich von seinem Lehrer und findet den eigenen Weg. Es erscheint unverständlich, dass ein so ausgezeichnetes Klavierwerk aus dieser Zeit auf den Konzertprogrammen fehlt, zumal doch Franz Liszt, Edwin Fischer und andere keineswegs unbedeutende Interpreten die Sonate in ihren Konzerten spielten.
Zur Zeit der ersten Entwürfe zu der Sonate (1862) hatte Draeseke als knapp 30jähriger ein an Höhen und Tiefen schon recht bewegtes Künstlerleben hinter sich. 1835 in Coburg geboren erhielt er seine musikalische Ausbildung von 1852 bis 1855 am Leipziger Konservatorium, wo er Komposition bei Julius Rietz studierte. Draeseke lernte während dieser Jahre natürlich auch die Werke Richard Wagners kennen und wurde schnell ein begeisterter Anhänger von dessen Kunstanschauungen. Über Franz Brendel und Hans von Bülow kam er schließlich in den Kreis um Franz Liszt in Weimar, wo sich - um es im Jargon der Zeit zu sagen - die "Zukunftsmusiker" jener Zeit versammelt hatten. Draeseke stritt noch in Leipzig mit überaus spitzer Feder als Kritiker in verschiedenen Musikzeitschriften für die neuen Ideale - und handelte sich manche Feindschaft fürs Leben ein. (Draesekes frühe Rezensionen, Besprechungen und Werkbeschreibungen sind als wissenschaftliche Veröffentlichung der Internationalen Draeseke - Gesellschaft e. V. 1987 in einem Band erschienen: "Felix Draeseke, Schriften 1855 - 1861, Gudrun Schröder Verlag") Seine frühen Werke erregten im Freundeskreis großes Interesse, und vor allen setzte sich Liszt für die Produktionen seines Schützlings ein, die dieser in späteren Jahren allerdings sehr kritisch betrachtete, nämlich u. a. auch als "bombastisch und überladen" (Autobiographie). Mit so gearteten Werken erntete der auf der Höhe seiner "Sturm- und Drang-Jahre" komponierende Draeseke in der musikalischen Öffentlichkeit damals wenig Verständnis. Auf der Weimarer Tonkünstlerversammlung von 1861 schließlich erregte sein "Germania - Marsch" helles Entsetzen; In den Zeitungen galt der kühne Zukunftsmusiker Draeseke als "Schrecken der Menschheit“. Als "ganz besonders gefährliche Bestie" gebrandmarkt und auf lange Zeit in Deutschland unmöglich gemacht, stand Draeseke am Tiefpunkt seiner so verheißungsvoll begonnenen Komponistenlaufbahn. Die Tonsprache einer ganzen Reihe von Jugendwerken (z. B. die "Caesar-Sinfonie") wurde erst Jahrzehnte später von Richard Strauss und Hugo Wolf wieder erreicht. Seiner Zeit mithin weit voraus, konnte er nicht verstanden werden; die erhoffte Anerkennung blieb aus. Draeseke entschloss sich in dieser Situation zu einem Auslandsaufenthalt und ging Ende 1862 in die West-Schweiz, wo er bis zur endgültigen Wiederkehr nach Deutschland 1874 schließlich zwölf Jahre als Klavierlehrer tätig war. Mutet dieses selbstgewählte Exil zunächst an wie eine Flucht, so ist festzuhalten, dass diese Jahre für Draeseke eine wichtige Zeit der Selbstbesinnung bedeuteten. Hatte er sich bisher ganz dem Fortschritt verschrieben, so kam als natürliche Reaktion nun die Suche nach dem Vorhergehenden. Wichtig auf diesem Wege waren für ihn Besuche bei Wagner in Triebschen bei Luzern. In seiner Autobiographie schilderte er anschaulich, wie Wagner ihm das Wesen der Beethovenschen Melodik nahe brachte. Auf einer großen Reise durch mehrere Mittelmeerländer lernt er die Formbeherrschtheit südlicher Architektur kennen. Schließlich studiert er intensiv die Werke Johann Sebastian Bachs. Eine Wandlung vom radikalen Fortschrittsmann zum konservativen Reaktionär? Sicher nicht! Steht eine umfassende Würdigung des Gesamtwerkes auch gerade erst am Anfang (dieser Aufgabe widmet sich die 1986 in Coburg gegründete "Internationale Draeseke Gesellschaft, mit deren Unterstützung diese Neuausgabe veranstaltet wird), so lässt sich mit gebotener Vorsicht doch dies sagen: Draeseke gelang es, die stilistischen Errungenschaften der "Neudeutschen Schule" mit den Formprinzipien strenger Musikarchitektur zu vereinen.
In die "Schweizer Jahre" fällt die Entstehung der "Sonata quasi Fantasia", die aus der Schumann-Chopin-Liszt-Schule hervorgegangen ist. Wie die großen Sonaten Beethovens stellt sie in ihrer durchaus orchestralen Anlage und einer "Ausdehnung von rund 1000 Takten eine Klaviersinfonie dar" (Erich Roeder, Biographie, Bd. I, S. 177). Das Werk wurde als einsätzige Fantasie-Sonate 1862 geschaffen. Erst später erhielt es seine endgültige Fassung mit der Hereinnahme des Intermezzos, eines glänzenden Scherzos nach Art der Konzertwalzer, die gleichzeitig entstanden sind. Ob der unmittelbare geistige Zusammenhang dabei Einbuße erlitten hat, ist nicht leicht zu entscheiden. Ebenso schwierig ist, eine Antwort darauf zu finden, ob es sich bei der Sonate um eine "reine" handelt oder um Programm-Musik. Man mag eher zu letzterem neigen, wenn die Nähe zu den anderen Jugendwerken bedacht wird, und wenn man außerdem von einem "Motto" weiß, das ursprünglich über der Sonate stand und erst bei der Drucklegung beseitigt wurde. Weil er im Schweizer Exil eine entscheidende Wandlung seiner Kunstanschauungen durchmachte, bei der Sonate der Einfluss Liszts vor allem im Klaviersatz deutlich wird, gewinnt die Sonate ihre besondere Bedeutung als das Werk, das gleichsam an der stilistischen Wende des Komponisten steht.
Die Sonata quasi Fantasia besteht in der letzten Fassung aus drei Sätzen:
I. Introduzione e Marcia funebre
II. Intermezzo (Valse-Scherzo)
III. Finale.
Der erste Satz gliedert sich in zwei Teile: Einleitung (43 Takte) und Trauermarsch (113 Takte). Sie stehen in klaren Proportionen zueinander, die Einleitung macht etwa ein Viertel der Gesamtlänge aus. Mit Allegro con brio beginnt die Einleitung signalartig mit einem "Motto": einer herrisch aufstrebenden Akkordfolge schließt sich eine durch vier Oktaven abstürzende Sechzehntel-Figuration an, die in markanten Oktaven der linken Hand gleichzeitig eine chromatisch aufsteigende Linie vorweist. Tonal ist dieses Motto nicht festgelegt, was für den Verlauf des Werkes wichtig ist. Es folgt ein mehr improvisatorischer Abschnitt mit suchenden harmonischen Rückungen, aber keinerlei melodischer Struktur. Lineare Züge treten erst im folgenden Andante molto espressivo auf. Wie zufällig hingeworfen erscheinen kurze Floskeln, deren Übereinstimmung mit einer vorherrschenden Melodie im Trauermarsch sofort ins Auge fällt. In noch glänzenderer Lage erscheint die Wiederholung des Mottos; auch der improvisatorische Abschnitt kehrt wieder, um drei Takte leicht gerafft. Im nun folgenden Andante wird das thematische Material des Trauermarsches vorausgenommen, unmerklich und sehr verdeckt durch begleitende Figuration. Der zweite Großteil des ersten Satzes, der Trauermarsch, besteht aus vier Abschnitten, die in ihrer Ausdehnung immer kürzer werden. Das Marsch-Thema zeigt einen klaren achttaktigen Bau und gibt dem ersten Abschnitt mit seiner rhythmischen Struktur die charakteristische Prägung. Die nächste Achttaktgruppe erhält eine trommelartige Bassbegleitung als zunächst einzige Veränderung. In den beiden folgenden Gruppen gewinnt das Melodische an Gewicht, dazu erfährt die Dynamik eine wesentliche Steigerung. Nach 32 Takten setzt ein "Abgesang" ein, und in der Abnahme der Dynamik sowie im Erreichen tieferer Register wird die Brücke zur düsteren Stimmung des Anfanges vom Trauermarsch geschlagen. Im nächsten Teil wird ein Seitengedanke mit mehr lyrisch-gesanglichem Charakter eingeführt, der schon in der Einleitung vorformuliert war. Wie das Hauptthema ist auch der Seitengedanke als Achttaktgruppe gebaut. Im folgenden wird das "zweite Thema" mit glänzendem Figurenwerk umrankt. In harmonisch und melodisch kühner Manier erklingt schließlich eine Überleitung in die Wiederholung des Trauermarsches, der nun gekürzt erscheint, von wuchtigen Martellato-Bässen begleitet. Der Satz schließt mit einer interessanten Coda, die ein bezeichnendes Licht auf das "Programm" des Ganzen wirft: mit der Anweisung quasi scampanata soll Glockengeläute auf dem Klavier dargestellt werden, was am Schluss eines Trauermarsches“... auf den Tod eines Helden" jedenfalls sehr sinnvoll erscheint - und was gewaltig anschwillt und im Pianissimo verhallt.
Das Intermezzo als zweiter Satz ist ein virtuos-brillanter Walzer, den Draeseke damit "für die Klaviersonate erobert" (Georgii, Klaviermusik, S. 402). Mit Des-Dur (= Cis-Dur) wird das tonale Zentrum der Sonate beibehalten. Will man die ersten 23 Takte als Hauptthema gelten lassen, so bestimmt dieses fünf von insgesamt neun deutlich zu unterscheidenden Abschnitten. Zwei weitere "Seitengedanken" bringen Abwechslung in die Gesamtanlage, die sich formal als Rondo darstellt, höchst abwechslungsreich und spritzig, so dass man Roeder in dem Bilde folgen mag: "Nächtliche Geister scheinen da um das Hünengrab ihren Spuk zu treiben" (Roeder, Bd. I, S. 181). Der "Spuk" spielt sich vorzugsweise im äußerst kühnen Gebrauch der Tonalität ab, die in diesem Satz kaum funktional, mehr als Klangfarbe zu verstehen ist. Wo sonst als in diesem Bereich sollte sich Draeseke als Fortschrittsmann der Neudeutschen ausweisen: kühn im Ausdruck - klar in der Form!
Jeglicher Gliederung scheint sich auf den ersten Blick das Finale aufgrund seiner riesenhaften Ausdehnung von 624 Takten zu entziehen. Erst bei näherem Hinsehen erschließt sich der zugrundeliegende Bauplan als ein den Prinzipien der Sonatenform ähnlicher, wenn auch in sehr freier Weise. So kann man die ersten 173 Takte als "expositionsartig" bezeichnen, während bis zum 331. Takt ein "durchführungsartiger Teil" sich vor einer "Art Reprise" ausbreitet, die ihrerseits nur noch die Hälfte des ersten Großabschnittes ausmacht. Mit der über 200 Takte langen Coda ist der längste Abschnitt gegeben. Eröffnet wird das Finale mit dem aus dem ersten Satz bekannten "Motto", womit die Brücke zum Kopfsatz geschlagen ist; die engen Beziehungen der beiden Ecksätze zueinander zeigen sich also keineswegs nur in der häufigen Wiederkehr des "Mottos". Die Anlage in vier Großabschnitte ist gleich; der stark verkürzte dritte Abschnitt ist im Finale wiederzuentdecken; bis hin zur Gestaltung von Haupt- und Seitenthema (rhythmische bzw. melodische Struktur) lassen sich die engen Beziehungen nachweisen. Als Ergebnis einer gründlichen Analyse der Sonate (welche den Rahmen eines Vorwortes freilich sprengen würde) kann festgehalten werden, dass Draeseke in seinem Frühwerk die Vereinigung von programmatischen Determinanten und traditioneller Sonatenform in sehr überzeugender, wenn auch eigenwilliger Weise gelungen ist. Insofern ist die Sonata quasi Fantasia Op. 6 von Felix Draeseke keineswegs nur ein "interessantes Werk" eines sogenannten Nebenmeisters des 19. Jahrhunderts: Das Werk darf als gültige Lösung des Sonatenproblems nach Liszt seinen gerechten Platz beanspruchen. Erich Roeder äußert in seiner Biographie bei der Besprechung die Vermutung, dass das der Sonate vorangestellte "Motto" vielleicht den Vers aus Luthers Osterlied enthielt: "Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen, das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen." (Roeder, Bd. 1., S. 178) Liszt schrieb 1884 in einem Brief an Draeseke: "Sie kennen meine Meinung über Ihre erste Klaviersonate. Seit Schumanns Fis-Moll Sonate weiß ich kein so bedeutsames Werk dieser Gattung." Es bleibt zu hoffen, dass mit diesem Neudruck das allgemeine Interesse für den Komponisten Felix Draeseke gefördert wird, der - zunächst in der Nachfolge Liszts stehend - später in stolzer Einsamkeit sich seine Eigenständigkeit erkämpft und bewahrt hat.
© 1988/2003 Udo-Rainer Follert |