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Felix Draesekes Symphonia tragica wurde am 13. Januar 1888 in Dresden unter der Leitung von Ernst von Schuch in Anwesenheit des sächsischen Königshauses uraufgeführt und fand begeisterte Aufnahme durch das Premieren-Publikum. Es ist durchaus interessant, einen Blick auf die nähere und weitere sinfonische Nachbarschaft zu werfen: Brahms dirigierte auf der Höhe seines Ruhmes die Uraufführung seiner großartigen e-moll-Sinfonie 1885 in Meiningen, Dvoraks „künstlerisch wertvollste“ 7. Sinfonie in d-moll erlebte ihre Uraufführung ebenfalls 1885, und zwar in London; Tschaikowskis 5. (Schicksals-) Sinfonie e-moll in St. Petersburg im November 1888, César Francks d-moll-Sinfonie 1889 in Paris und - oft schon erwähnt in diesen Zusammenhängen – Bruckners Achte in c-moll wurde 1892 von Hans Richter in Wien zur Uraufführung gebracht. Um auch das siebte, durchaus bedeutende sinfonische Spitzenwerk in diesem Reigen nicht zu übergehen: die „Pathétique“ Tschaikowskis kam in St. Petersburg 1893 zum ersten Mal zur Aufführung, und der Bruder Modest wollte die Sinfonie gerne „die Tragische“ nennen; es blieb bei der „Pathétique“. Für Freunde solch eher „statistischer“ Feststellungen ganz gewiss eine merkwürdige Beobachtung, und sorgfältige Betrachtung fördert eines zutage: ihnen gemeinsam ist ein ernstes Ringen um die Weiterentwicklung der Sinfonie nach Beethoven, um die Darstellung des Schicksalhaften, des Tragischen in dieser musikalischen Gattung mit den Mitteln reiner Musikarchitektur.
Zwischen 1885 und 1893 wurden mithin sieben Sinfonien „zur Welt“ gebracht, die allesamt ihre Plätze auf den Konzertprogrammen der ganzen Welt erobert und erhalten haben – bis auf eine: Draesekes Symphonia tragica. In den ersten Jahrzehnten des 20sten Jahrhunderts noch relativ häufig gespielt (Arthur Nikisch z.B. setzte sich vehement für die Sinfonie ein), spielt diese unbestritten hochkarätige Sinfonie im öffentlichen Musikleben bis heute praktisch keine Rolle. Eine mehr als bedauerliche Lücke in der allgemeinen Bildung sowohl als auch in der besonderen, denn in freier Abwandlung eines gängigen Sprichwortes könnte man formulieren: „Was der Dirigent nicht weiß, macht ihn nicht heiß!“ - Doch es gibt ernst zu nehmende Ursachen, und ganz gewiss hat die Vereinnahmung der Musik dieses angeblich „kern-deutschen Recken“ durch die nationalsozialistische Kulturpolitik dem Komponisten Felix Draeseke und seinem beachtlichen Gesamtwerk eindeutig geschadet!
Dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebieten, Leben und Werk von Felix Draeseke frei von „Altlasten“ zu erforschen, die musikalischen Werke in Neuausgaben bereitzustellen und damit deren Darstellung in öffentlichen Konzerten zu ermöglichen ist Ziel und ausdrücklicher Satzungszweck der 1986 in Coburg gegründeten INTERNATIONALEN DRAESEKE GESELLSCHAFT E e.V.
Diese konnte bisher schon in beachtlichem Maße Aufmerksamkeit namentlich auch für Draesekes Sinfonik wecken. Neben Aufführungen in öffentlichen Konzerten sind zwei CD-Einspielungen in jüngster Zeit besonders geeignet, Draesekes Dritte, eben die Tragica in breiten Kreisen bekannt zu machen. Dazu teilt Friedbert Streller in seiner Rezension von 2002 mit: „In einer Aufnahme vom Dezember 1997 legte die Radio-Philharmonie Hannover des NDR unter Jörg-Peter Weigle im Jahr 2000 die Sinfonie vor (cpo 999 581-2) und 2001 folgte das Wuppertaler Symphonieorchester unter George Hanson mit einer im Juni 2000 erstellten Produktion von MDG
(335 1041). Der derzeitige Chefdirigent in Wuppertal, der nach Hanns Martin Schneidt und Peter Gülke seit 1998 an der Spitze des Ensembles steht, akzentuierte die dramatische Schlagkraft des viersätzigen Werkes in wirkungsstarker Interpretation.“
Derlei Pioniertaten sind erwünscht und zu begrüßen wie auch die Bereitstellung von Studienpartituren in der Reihe „Repertoire Explorer“ der mph Musikproduktion Höflich, München, wo fast das gesamte sinfonische Werk Draesekes aufgenommen wurde und auch die Symphonia tragica als Study Score Nr. 129 greifbar ist und – studiert werden kann.
In Zusammenarbeit mit der Edition Nordstern, Musikverlag Stuttgart legt die IDG hiermit die Sinfonia tragica als Band XV der Notenreihe in einer praktischen Neuausgabe mit Partitur und Orchestermaterial nach dem Autograph und dem Erstdruck vor, in der erklärten Absicht, dem Werk damit den Weg zu breiterer Bekanntheit und Anerkennung zu ebnen und Aufführungen in öffentlichen Konzerten möglich zu machen.
Erich Roeder teilt im zweiten Band seiner Draeseke – Biografie (S. 172 ff) mit, dass Draeseke um die Entstehungszeit der Sinfonie sich bewusst werden musste, dass eine Verschlimmerung seines Gehörleidens eingetreten war. Wie Röder im folgenden darlegt , könnte die Vermu-tung neheliegen, hier an einen Zusammenhang zwischen Leben und Schaffen zu denken, aber er betont, dass an derlei nicht zu denken ist, denn Draeseke arbeitete schon länger an der Sin-fonie. Die Pläne reichen schon weit zurück. Schon 1877 macht er brieflich erste Andeutungen über das geplante Werk, und der Verleger drängte sogar auf Ablieferung zu einem Zeitpunkt, da Draeseke mit der Ausarbeitung seiner Dritten erst richtig begann. Die Arbeit zog sich hin Das Scherzo hatte Draeseke schon 1885 fertiggestellt, die beiden ersten Sätze im Oktober 1886, und das Finale trägt die Tagesangabe 7.12.1886. Nach einer Aufführung der Sinfonie unter Arthur Nikisch im Leipziger Gewandhaus im Dezember 1907 soll sich Draeseke zu seiner Sinfonie geäußert haben: „…Es war mir immer aufgefallen, und ich habe auch in meinen musikgeschichtlichen Vorträgen darauf hingewiesen, dass die Tragik, die durch Beethoven in die Instrumentalmusik eingeführt worden, rein instrumental weder in der Eroica noch in der c-moll-Symphonie ihre ganz befriedigende Lösung gefunden habe und Beethoven deshalb in der Neunten nochmals nach einer Lösung ausschauen musste, die diesmal nicht auf rein instrumentalem, vielmehr auf vokalem Gebiet erfolgen sollte. Bei der Tragica kam mir der Wunsch, zu versuchen, ob es auf instrumentalem Weg nicht doch möglich sei, und diesem Wunsch verdankt das Finale die Entstehung.“
Dass Draeseke um die Entstehungszeit seines Opus 40 zu den „Programm-Musikern“ seiner Umgebung deutlich auf Distanz gegangen war, ist bekannt und unterstreicht die Glaubwürdigkeit seiner künstlerischen Anstrengungen. „Es ging ihm darum, in der Sinfonie als instrumentalem Drama das letzte Wort zu sprechen. Hieraus erklärt sich die Anlage des viersätzigen Werkes und die deutliche Schwerpunktverlagerung auf den letzten Satz. - Vom Wortdrama hergeleitete Grundsätze sind damit in der wortlosen, allgemeinen Sprache der Musik, im Rahmen der klassischen Form, folgerichtig durchgeführt. - Sich die Tragik nach seiner Erfah-rung auszulegen, bleibt jedem Hörer überlassen.“ (Roeder, Bd.II, S.174)
Wir wissen aus Draesekes Äußerungen zu seiner Sinfonie, dass ihr kein bestimmtes „Programm“ zugrunde liegt, etwa der Art, dass man sich einen „tragischen Helden“ vorzustellen habe, der trotz heldenhaften Verhaltens und unermüdlichem Streben seinem Schicksal nicht entgeht! Sowohl bei Erich Röder (Biographie Bd.II ) wie auch bei Hermann Kretzschmar (Führer durch den Konzertsaal) und anderen Autoren, die sich beschreibend der „Tragica“ genähert haben, ist festzustellen, dass man offenbar ohne Anleihen aus Literatur und darstellender Kunst nur schwer ein Bild von der Symphonia tragica zeichnen kann. Wenn wir nun hier versuchen, der Idee einer Darstellung des „Tragischen“ mit ausschließlicher Beschreibung der musikalischen Vorgänge beizukommen, dann ist nicht sicher, ob dies so auch verstanden werden kann. Immerhin ist es einen Versuch wert.
Draeseke stellt seiner „Symphonia tragica“ eine Einleitung (Andante, 4/4) voran, die aus einem wuchtigen „Ur-Ton“ G entwickelt wird. Das Werk steht in C, also beginnt das musikalische Geschehen von der Dominante aus und strebt, chromatisch abwärts schreitend der Tonika C zu. Der Komponist gestaltet diesen ganzen melodischen Abstieg in einer klaren achttaktigen Periode, wobei aber die ersten vier Takte durch das dreimalige Wiederholen des G etwas ausdrücken wollen, das statisch und unbeweglich wirken soll. Der äußerst zögerliche Fortschritt aus dem Ur-Ton G um einen Ganzton tiefer zum F wirkt in der Weise, wie Draeseke ihn gestaltet, denn auch absolut dissonant und unmelodisch, denn er kommt vom G zum F durch einen riesenhaften , ganz unsanglichen Nonensprung in jeweils dissonante Zielakkorde. Auch der weitere chromatische Abgang in der zweiten Periodenhälfte unterstreicht einen Niedergang, verstärkt noch durch einen aggressiven Marschrhythmus. Wo nun endlich melodisch die Tonika erreicht ist, stellt sich keineswegs Entspannung ein: der wiederum dissonante Akkord unter dem erreichten C wirkt durch ein scharfes, mit einem Akzent einsetzendes Tremolo des gesamten Streichorchesters äußerst spannungsgeladen und bremsend. Wohin soll sich Musik bei solchen Voraussetzungen nun wenden? Draeseke überwindet innerhalb von zwei Takten mit den Violinen ganze drei Oktaven, als soll auf der Tonika nun endlich eine hohe Stimmung erreicht werden, und während in der ersten Periode sämtliche Stimmen sich abwärts wandten, gelingt mit der aufwärts führenden Melodik auch eine Umkehr der tremolierenden Basslinie, wobei die hohen Stimmen wieder absteigen, diesmal allerdings in wohlklingenden Sextenparrallelen. In Harmonik und Melodik stellt dieser Abschnitt gegenüber dem Vorherigen schon deutlich einen Gegensatz dar. Kommt es bei Draeseke doch stets auf jedes Detail an, muss deren Beschreibung aber einer gründlicheren Analyse als hier beabsichtigt vorbehalten bleiben. Dennoch sei auf ein bemerkenswertes Dreiton-Motiv gegen Ende des zweiten Abschnitts hingewiesen, welches – obwohl wie eine Klagegeste – das Kommen einer anderen Klangwelt ankündigt. Diese wird mit dem lange hinaus gezögerten Erreichen der Haupt-Tonart C – Dur denn auch erreicht, und über schlichten Begleitfiguren der Violinen wird ein zweiter musikalischer Gedanke eingeführt, der gegenüber der allerersten Periode einen Gegensatz darstellt, wie man ihn sich krasser kaum vorstellen kann! In seiner schönen Melodik stellt dieser von Hörnern und Klarinetten vorgetragene Gedanke ein positive Element als ein Symbol der Hoffnung dar, und es ist sehr spannend, was Draeseke im Laufe der Sinfonie daraus macht! Gegen Ende dieser „positiven“ Achttaktperiode kann man ein sehr raffiniertes Detail entdecken: unmittelbar vor dem 32. Takt taucht wieder ein melodischer Gang von der Dominante zur Tonika, also von G nach C auf, dieses Mal aber als aufwärts gerichteter Quartgang gestaltet, der für das folgende Geschehen entscheidende Bedeutung gewinnt, denn hier wird in den Bässen das Hauptthema vorgebildet, welches nach weiteren acht Takten rhythmischer Beschleunigung und Verdichtung in glanzvollem Unisono das Allegro risoluto beherrscht. Zweifelsohne stellt die Einleitung an jeden Interpreten hohe Forderungen, vor allem aber will eine penible Kenntnis der Details erworben sein, soll aus dem Geschilderten das dargestellt werden, was der Komponist darstellen will: Tragik mit rein musikalischen Mitteln. Die Einleitung ist die Urzelle der Sinfonie.
Nach dem kraftvollen Unisono-Thema führt Draeseke nacheinander mehrere Gedanken oder Themen ein, die zum Teil aus dem auftaktigen Quartgang aus der Einleitung hervorgehen und weiterentwickelt werden, sowohl in gerader als auch umgekehrter Bewegung. Ein zweiter lyrischer Gedanke – von melodischen Hörner-Signalen eingeleitet - erinnert natürlich an den positiven Gedanken der Einleitung und ist auch aus diesem abgeleitet. Mit ihm wird der erste Themenkomplex über der pochenden Pauke auch sehr verhalten abgeschlossen, und man gewinnt den Eindruck, als ob der musikalische Fluss stagniert. Das bei Takt 32 der Einleitung gewonnene Motiv des Hauptthema meldet sich nun im Fortgang des Satzes zunächst zaghaft zurück, bestimmt aber zusammen mit den anderen Themen im weiteren Verlauf den nächsten Komplex, der nach einer sehr dramatischen Episode in hohen Lagen pianissimo verklingen will, aber – wie aus weiter Ferne – erscheinen die beiden Hauptgedanken aus der Einleitung unmittelbar nebeneinander: der Ur-Ton G schwebt sozusagen auf das musikalische Geschehen hernieder und bringt den Satz fast zum Stehen; das zweite Thema erscheint ebenso wie das Urmotiv des Hauptthemas. Im folgenden Abschnitt führt Draeseke das musikalische Geschehen über einem langen Orgelpunkt G mit dem markanten Auftaktmotiv in eine spannungsgeladene Durchführung und kommt über zwei sehr wirkungsvolle Fermaten zur Reprise des Satzes. Begleitet von aufstrebender Fanfarenmotivik beherrscht das Hauptmotiv den Satz bis zum glanzvollen Schluss mit seinen drei markierten Unisono – C, die quasi die Vorherrschaft der aufstrebend positiven Gedanken unterstreichen.
Mit dem zweiten Satz (Grave. Adagio ma non troppo) tut sich sofort eine ganz andere Welt auf: immer gleiche Posaunen-Akkorde über unruhigen Pauken-Wirbeln lassen kaum eine melodische Entwicklung zu, die sich dann auch nur sehr zaghaft entwickeln kann, denn man muss schon genau hinhören, um zwischen den dunklen Posaunenklängen das achttaktige Hauptthema überhaupt wahrzunehmen, und was sich im 5.Takt schließlich an Melodik zeigt, ist nichts anderes als jener Hoffnungsgedanke aus der Einleitung, der hier in völlig anderer Umgebung in sein Gegenteil verkehrt erscheint. Diese musikalische Negation unterstreicht der Komponist eindrucksvoll durch scharfe Triolen-Motive, die den ohnehin stagnierenden Charakter dieser Melodik gleichsam zerstören. Der marschartige Sarabanden-Rhythmus erinnert eindrücklich an die ersten Takte der Einleitung mit jenem resignativen Abstieg in allen Stimmen. Im zweiten Teil des Grave führt Draeseke ein zweites Thema ein, mit dem im Charakter eine Wendung ins Positive versucht wird. Das dreitaktige Thema wird kontrapunktisch kunstvoll durchgeführt – aber dieser Reigen währt nicht lange, denn mit dem abgespalteten Achtelmotiv dieses zweiten Themas führt Draeseke in dramatischer Steigerung das Hauptthema wieder herbei, begleitet von den in diesem Zusammenhang absolut furios wirkenden Sechzehntel-Triolen, ein musikalisches Zerstörungsmotiv, welches das Geschehen bis zum Satzende bestimmt bzw. überschattet. Was Draeseke mit dieser Entwicklung ausdrücken will, wird ganz deutlich an jener Stelle, wo er – poco a poco piú agitato – in hoher harmonischer Verdichtung einen dramatischen Höhepunkt ansteuert, der in großer dynamischer Kraftentfaltung auf einem Ton E gipfelt, welcher im harmonischen Zusammenhang dieses Satzes die Dominante ist – und schon befinden wir uns am Anfang der Sinfonie. Eine Entfaltung der bisher vorgetragenen positiven Gedanken kann nicht stattfinden; ein tragisches musikalisches Geschehen kündigt sich an, aber die Sinfonie ist noch nicht zu Ende!
Das Scherzo (Allegro, molto vivace) ist dreiteilig angelegt, ein Hauptsatz in zwei Teilen, ein Trio und die Wiederholung des Hauptsatzes. Das erste Thema besteht aus fünf Takten, die sofort in der Paralleltonart wiederholt werden, und in der weiteren Entwicklung arbeitet der Komponist mit raffinierten rhythmischen Akzentverschiebungen. Nach 36 Takten wird das zweite Thema eingeführt, das als 16taktige Periode lyrische und elegische Elemente gleich-zeitig hören lässt. Doch auch in diesem Scherzo erscheint der tragische Grundton keineswegs ausgeschlossen, denn unmittelbar an die Wiederholung des zweiten Themas in den hohen Violinenlagen erinnert ein leiser Paukenwirbel auf G unmissverständlich daran, worum es in dieser Sinfonie geht; und dass dazu die Bässe auf einem Cis tremolieren, dürfte die Absichten unterstreichen. Nach dieser kurzen Negativ- Episode (die kurz vor dem Ende des ersten Teiles auf den Tönen C und Fis in gleicher Instrumentierung nochmals auftaucht) nimmt das Scher-zo seinen Fortgang. In einer kühnen Rückung nach Des beginnt das Trio nach zweimal drei Akkorden – unzweifelhaft wird hier an den Anfang des Grave erinnert – mit einer weiteren 16taktigen Periode. Das melodisch einprägsame Thema beherrscht diesen Mittelteil ganz allein bis hin zu einer grandiosen dynamischen Steigerung von mitreißender Wirkung. Danach verebbt die Musik im Pianissimo und ein klopfendes Paukenmotiv führt die Wiederholung des ersten Teils herbei. Bis auf die erwähnten kleinen, aber doch sehr deutlichen musikalischen Gesten, die an früheres erinnern sollen, benutzt Draeseke kein thematisches Material aus den beiden ersten Sätzen. Derlei bleibt dem Finale vorbehalten, welches in seiner riesenhaften Ausdehnung von 826 Takten in der sinfonischen Literatur gewiss einen besonderen Platz beanspruchen darf.
Es beginnt wiederum auf der Dominante G mit einem Motiv deutlicher Unruhe, und sehr gehetzt wirkt die rasch aufsteigende C-Skala, was wie eine Frage wirkt, die nun im Raume steht. Es scheint, dass das zweite Thema der Einleitung die Antwort sei. Das gleiche wiederholt sich, doch die scheinbare Antwort verliert sich in den höchsten Orchesterlagen und wird selbst zur Frage! Eine kurze Überleitung durch die tremolierenden Bässe führt in das erste achttaktige Thema in der Haupttonart, das aus dem „Unruhe-Motiv“ quasi heraussprudelt und von diesem auch sofort wieder abgelöst wird. Eine weitere Achttaktperiode von sehr hintergründiger Gestaltung schließt sich an. In nur einem Takt wird hier nämlich auf der Dominante G die Oktave mit wenigen Tönen durchschritten, und dann senkt sich die Linie in chromatischen Schritten über sieben Takte lang über anderthalb Oktaven hinunter. Das zweite Thema wird auf C wiederholt, weiterhin ständig begleitet vom Paukenwirbel. Beide Themen vermitteln gehetzte Atemlosigkeit. Ein drittes chromatisch aufsteigendes Motiv beschließt den ersten Themenkomplex und kommt über das „Unruhe-Motiv“ zur Wiederholung der ersten Themengruppe. Nach 144 Takten führt Draeseke ein viertes, lyrisches Thema im geraden Takt ein (und ein fünfter Gedanke erinnert klar an das zweite Thema aus dem Grave), das zum vorherigen einen deutlichen Gegensatz bildet, der nach 75 Takten aber schon wieder in Frage gestellt wird, und erneut meldet sich das „Unruhe-Motiv“. Doch nun schließt sich als vierte Gruppe unter Verwendung der flüchtigen 6/8tel Rhythmik ein scherzando-artiger Abschnitt an, dem in dynamischer Steigerung dann als fünfter Abschnitt die Wiederholung der ganzen ersten Gruppe folgt. Nach 346 Takten führen die Bläser ein neues achttaktiges Thema ein, das in dichter kontrapunktischer Arbeit durchgeführt wird. Nach weiteren 60 Takten erscheint das 8. Thema und bestimmt den musikalischen Verlauf, der dann vom „Unruhe-Motiv“ abrupt unterbrochen wird, das über eine ganze Achttaktperiode dynamisch stark aufgeladen wird und unmittelbar noch einmal das Scherzando-Thema herausfordert, bis bei Takt 500 der Themenreigen jäh abbricht und nunmehr über mehrere Perioden hinweg die Negativ-Elemente zur Vorherrschaft gelangen.
Mit der letztmaligen Einführung des lyrischen 4. Themas kann auch keine Wende des dramatischen Geschehens mehr erreicht werden, so dass es musikalisch absolut folgerichtig erscheint, wenn Draeseke unter furiosem Vorwärtsdrängen nunmehr das gesamte Geschehen quasi im Rückspiegel vorführt. Exakt bei Takt 580 erscheint das Hauptthema des ersten Satz, welches seinerzeit Positives vertreten hatte, nachdem das „schöne Thema“ aus der Einleitung aufgetreten war und sozusagen den apollinischen Aspekt symbolisiert. In dieser dramatischen Gruppe, wo Draeseke in souveräner Meisterschaft die kontrapunktischen Mittel in den Dienst der gewollten Darstellung stellt, wird denn auch dieser apollinische Hauptgedanke, allerdings in seiner resignativen Erscheinung aus dem Grave ad absurdum geführt, d.h., es gibt keinen Ausweg: in atemberaubender Steigerung und unter Anwendung stärkster dynamischer Kraft-entfaltung kehrt die Musik zum „Ur-Ton“ G zurück, und die Einleitung der Sinfonie erscheint wortwörtlich in vierfacher Ausdehnung, unaufhörlich vorangetrieben durch das „Unruhe-Motiv“, dem charakteristischen Hauptgedanken des Finale. Ab Takt 805 zitieren die gedämpften Streicher ein letztes Mal das „schöne Thema“ aus der Einleitung, und man erinnert sich an das seufzerartige Dreiton-Motiv aus Takt 19, welches vor seiner Einführung zu hören war! Nun – über plagalen Harmonien erscheint dieses Motiv als allerletzte melodische Wendung dieser Symphonia tragica, und ihre Musik verebbt im äußersten Pianissimo. Die Tragödie ist zu Ende.
Nicht zu Ende ist die Wartezeit, welche noch andauert bis zum Erscheinen dieses genialen Werkes auf den Konzertprogrammen der Musikwelt, des Werkes eines Sinfonikers, der ebenso einen ebenbürtigen Platz neben seinen Sinfoniker-Kollegen beanspruchen darf, wie ihn seine Symphonia tragica neben ihren gleichwertigen Schwestern von Anfang an besaß und bis heute besitzt, wenn auch unerkannt, was aber eher fehlender Aufmerksamkeit sowie einer schmerzlichen Lücke in der allgemeinen musikalischen Bildung anzulasten ist.
Die „Symphonia tragica“ erscheint als Band XV in der Reihe der Notenausgaben der INTERNATIONALEN DRAESEKE GESELLSCHAFTe.V. Coburg bei Edition Nordstern Musikverlag, Stuttgart, und Herrn Volker Tosta sei für die Bereitschaft gedankt, nach der Sinfonia Comica und der Ouvertüre zur Oper „Bertran de Born“ nun auch Draesekes größtes sinfonisches Meisterwerk in einer Neuausgabe mit Partitur und Stimmen in Verlag zu nehmen an die Öffentlichkeit zu bringen.
Der Landesbibliothek Coburg ist zu danken, die das Autograph der Sinfonie für den notwendigen kritischen Vergleich mit dem Erstdruck bei Kistner & Siegel, Leipzig 1887 zur Verfügung gestellt hat.
Vorzüglichen Dank für das Zustandekommen dieser Edition schuldet der Herausgeber im Namen der Internationalen Draeseke - Gesellschaft Coburg e.V. in erster Linie der Niederfüllbacher Stiftung für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit.
Speyer, im Mai 2005
Udo-Rainer Follert |