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"Als
die große Linie zeichnet sich diese ab: es gelang seiner
ungebrochenen Urkraft, die lebenglühende Ausdrucksmusik
der Neudeutschen (deren ultraradikaler Exponent er war) in
unerhörter Selbstbezwingung zu beherrschter Objektivität
zurückzuführen und ins Gleichgewicht zu bringen mit
den überpersönlichen und überzeitlich gültigen
Werten und Gestaltungskräften reiner Musikarchitektur.
Dieser Sendung diente auch Brahms. Aber bei wenigen Zeitgenossen
erwuchs sie einer auch nur annähernd so starken Gegenspannung
der Grundkräfte wie bei Felix Draeseke." (H. Stephani über
Felix Draeseke, Artikel zum 20. Todestag 1933).
Felix
Draeseke, "die umstrittenste Erscheinung der neueren Musikgeschichte" (Richard
Batka, Willibald Nagel, Allgemeine Geschichte der Musik, Bd.III,
S. 172 ff.), wurde am 7. Oktober 1835 in Coburg geboren. Die
Vorfahren waren von Mutter- und Vaterseite her hohe evangelische
Geistliche. Am Leipziger Konservatorium der nachschumannschen
Zeit u. a. von Rietz ausgebildet, war auch für den jungen
Draeseke wie für viele seiner Zeitgenossen Wagners Musik
wegweisend. Er fand Anschluß bei den sog. "Neudeutschen" des
Weimarer Kreises um Franz Liszt. Draesekes kompositorische
Erstlingswerke waren äußerst radikal. So wurde nach
Liszts Abschied von Weimar (1861) auch für seine Anhänger
die Situation schwierig. Im selbsterwählten, zwölfjährigen
Exil in der Schweiz machte Draeseke jene Wandlung durch, die
ihn dazu befähigen sollte, die Ausdrucksmittel der "Neudeutschen" und
die strengen Formen der "Alten" zu einem höchst
persönlichen Stil zu vereinen.
Draesekes
Weg als Künstler war ein fortwährender Kampf um Anerkennung.
Der von allen seinen Schülern am Dresdener Konservatorium
hochgeachtete Professor für Komposition und Musikgeschichte
fand mit seinen Werken nicht das Echo in der musikalischen Öffentlichkeit,
wie es dem in dieser Hinsicht glücklicheren Zeitgenossen
Brahms beschieden war. Draesekes schweres Gehörleiden
hinderte ihn zudem an der Ausübung des praktischen Musikerberufes
als Dirigent und Pianist, und so konnte
er nicht selbst für die Verbreitung seiner Werke eintreten.
Der 77 jährige erlebte einen späten Triumph: Im Jahre
1912 erfolgte die Gesamtaufführung seines vierteiligen "Christus" (Mysterium:
ein Vorspiel und drei Oratorien), der in der Musikgeschichte
einzig dastehenden dramatischen Darstellung vom "Leben,
Wirken und Sterben unseres Heilandes auf dieser Erde".
Der hohe Wert dieses Monumentalwerkes bewog die Berliner Universität,
dem greisen Meister die Ehrendoktorwürde zu verleihen.
Bald darauf, am 26. Februar 1913, starb Draeseke in Dresden.
Die einsetzende Draeseke - Pflege erlahmte mit Ausbruch des
1. Weltkrieges - und kam bis heute nicht wieder recht in Schwung.
Die Entwicklung der Musikgeschichte ging andere Wege. Auch
waren die Maßstäbe einer angemessenen Beurteilung
und Bewertung von Draesekes Werk bzw. Stellung infolge der
enormen kulturellen und sozialen Umwälzungen nach dem
Kriege völlig verlorengegangen. Erst jetzt wächst
allmählich das Interesse an der "unerkannten" Musik
des 19. Jhd., als deren hervorragendster Vertreter Draeseke
sehr wohl gelten darf. Des Meisters kompositorisches Schaffen
umfaßt alle Gattungen der Musik, und in allen schuf er
Werke von zum Teil überragender Bedeutung. Die geistliche
Musik nimmt mit Motetten, zwei Messen, zwei Requiems, Kantaten,
Psalmen und dem erwähnten Mysterium neben Oper und Symphonie
den breitesten Raum ein. Die hier vorgelegte Neuauflage ist
ein Nachdruck der Erstedition von 1910 und erfolgt mit freundlicher
Genehmigung des Musikverlages F. E. C. Leuckert, München.
Die "Große
Messe" a-moll, Op. 85, weist Draeseke aus als Meister
eines A-cappella-Stiles, wie es ihn in dieser eigenständigen
Tonsprache zwischen Brahms und Reger nicht gibt. Das ganze
Werk durchzieht eine sehr eingängige Melodik. Die formale
Anlage der einzelnen Sätze darf man meisterhaft nennen;
in der Harmonik finden sich Kühnheiten, die nicht künstlich,
sondern natürlich wirken, gleichwohl aber Draesekes persönlichen
Stil unterstreichen.
Das Kyrie in
Form einer Doppelfuge zeigt die Synthese von alter Fugenform
und spätromantischer Harmonik. Im Gloria meidet
der Meister die "alte Fugenfessel" und folgt in beweglichem
Wechsel der Gegensätze einem planvollen Modulationsschema.
Das Gloria-Thema kehrt im "Cum sancto spiritu" wieder
und hat also eine Klammerfunktion. Von sehr expressivem Charakter
ist das "Qui tollis peccata mundi". Wie eine mächtige
Orgelintonation steht im Credo jedem Artikel
die gleichgeformte Bekenntnisformel voran. Im zweiten und dritten
Glaubensartikel findet Draeseke beim "et incarnatus",
beim "Crucifixus" und beim "Confiteor" -
um nur wenige zu nennen – Ausdrucks-formen, die einzigartig
sind! Die brillante "Et vitam"-Fuge zeigt wieder
den souveränen Kontrapunktiker. Dem akkordisch geprägten,
klangvollen Sanctus folgt eine jubilierende
Osanna-Fuge, die organisch in die Anfangsakkorde wieder einmündet,
mit denen der Satz schließt. Das Benedictus ist
in seiner melodisch - liedhaften Anlage ein Satz von ergreifender
Schlicht-heit. Das Agnus Dei verlangt ein
Zeitmaß "fast wie im Kyrie". Der erste Teil
bringt den Vordersatz dreimal in stetiger harmonischer Steigerung,
worauf das "Dona nobis pacem" in
Form einer Drei-Themen-Fuge folgt. Das nochmals eingeschobene
Agnus Dei - unisono ausgeführt -leitet in einen Schluß über,
der verklärend und schlicht die Bitte nach Frieden ganz
und gar unnachahmlich ausdrückt.
Möge
die Neuausgabe seiner "Großen Messe" den Komponisten
Felix Draeseke weithin bekannt machen. Möge sie auch helfen,
ein Bewußtsein dafür zu schärfen, welch hohe
Kunst verborgen bleibt, wenn das Gesamtwerk "dieses Mannes,
der den höchsten Zielen entgegenstrebte" (Batka),
weiter unerkannt bliebe. ©Udo-R.
Follert 1983/2002
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