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Angesichts der sehr traurigen Zustände, in denen sich die heutige Musik befindet, sind wir wohl berechtigt, von Konfusion zu reden. Denn die Unklarheit und Verwirrung ist so hoch gestiegen, daß auch viele Künstler sich nicht mehr in ihr zurechtfinden. Schauten frühere Zeiten erbitterte Kämpfe, die von feindlich gegenüberstehenden Parteien ausgefochten wurden, so erschreckt unsere Epoche durch einen erbarmungslosen Kampf aller gegen alle, ohne daß man den künstlerischen Grund dieses Kampfes zu entdecken vermöchte! Denn er entbrennt nicht wie die früheren für ein Prinzip, - es müßte denn das der Selbsterhaltung sein, und die Kämpfer würden in Verlegenheit geraten, wenn man sie über ihre Ziele befragte.
Gewachsen ist die Zerstörungslust gegenüber geheiligten Traditionen und Schönheitsregeln und ebenso die Impietät gegenüber den gewaltigen Leistungen einer großen Vergangenheit. Infolgedessen schwindet auch vollkommen die Erinnerung an das, was früher als Merkmal der Schönheit bewundert ward und uns in vielen Meisterwerken entzückte. Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes Harmoniengewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form, schön vermittelte oder überraschende Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer übertriebene Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt erscheint. Instrumentieren alle jungen Künstler meist vortrefflich, so übertreiben sie doch auch nicht selten die Farbgebung und verletzen uns sogar manchmal durch schreiende und grelle Klänge. Auch lieben sie in geradewegs unzulässiger Weise eine Häufung der Mittel, die sich in dieser Zahl auch gut besetzte Orchester nicht leisten können, und wirken mit ihren zahlreichen Hörnern, Trompeten, neuerfundenen Holzblase- und den vielen Schlaginstrumenten dann insoweit recht ungünstig auf das allgemeine Musikleben, als dieser außerordentliche Reichtum die Ohren der Zuhörer verwöhnt und für bescheidenere Orchesterklänge abstumpft. Da gegenwärtig in der Programmusik fast das alleinige Heil gesucht wird, erscheint die Bevorzugung der Instrumentationskunst natürlich begreiflich, indem sie bei der Darstellung der verschiedensten Objekte sich als unentbehrliches und sehr nützliches Hilfsmittel erweist.
Ob aber die alleinige Herrschaft dieser Programmusik für die instrumentale Kunst sich heilsam bewähren wird, möchten wir doch stark bezweifeln. Denn eine so überzeugende Deutlichkeit, wie die bildenden Künste oder die Poesie, die über eine allen Volksangehörigen verständliche Sprache gebietet, - besitzt die Tonkunst nicht und ihre Bemühungen, einen Vorgang musikalisch zu versinnbildlichen, werden stets auf den guten Willen und die Mithilfe der Hörenden angewiesen sein. Anderseits aber gebietet sie über eine Sprache, die die gewöhnliche Wortsprache hinter sich lassend, das Unaussprechliche darzustellen bestimmt ist und von vielen ihrer Verehrer, wie auch von uns, für ihren größten Reichtum angesehen wird. Denn durch diese Fähigkeit löst sie sich vom Wort und von der Dichtkunst, wird selbständig und kann erst hierdurch, als fremder Hilfe entbehrend und allein durch sich selbst wirkend, sich ebenbürtig den Schwesterkünsten zugesellen. Mit der Programmusik begibt sie sich aber wieder in den Dienst des Wortes und versucht bei Aufwendung der raffiniertesten Mittel und in mühsamster Weise eine Darstellung zustande zu bringen, die mittelmäßige Dichter oder Maler mit Leichtigkeit immer noch deutlicher gestalten würden.
Suchen wir Trost bei der Gesangskunst, so begegnen wir ebenfalls den unerfreulichsten Erscheinungen. Eine einfache Liedweise ist kaum noch anzutreffen, reizlose Deklamation für gewöhnlich und in der Oper manchmal wüstes Herausschreien einzelner Akzente an ihre Stelle getreten. Ueberhaupt scheint in der heutigen Komposition die eigentliche Gemütssprache, wenn nicht erstorben, doch sehr zurückgedämmt zu sein, was vielleicht auf die Furcht der Tonsetzer, einer zu großen Weichheit oder Sentimentalität beschuldigt zu werden, hinzudeuten scheint. Kalte Verständigkeit und Gleichgültigkeit entspricht übrigens so sehr dem ganzen Geiste und Wesen der Zeit, daß man sich über diesen Mangel nicht weiter zu wundem braucht.
Eher könnte uns das Fehlen jedes Kunstprinzips in Erstaunen setzen; denn Richtungen mit ausgesprochenen Grundsätzen gibt es, abgesehen von den Starr-Konservativen, kaum mehr in unserer Zeit. Ja, man kann geradezu sagen, daß die meisten jetzt Lebenden in der Tonkunst rechts und links zu unterscheiden nicht mehr ganz fähig sind.
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Wie aber war es möglich, daß die musikalischen Zustände sich so unheilvoll gestalten, eine so allgemeine Verwirrung und Verwilderung überhandnehmen konnten? Wie einige meinen, ist diese neue Bewegung nur als Fortsetzung jener älteren aufzufassen, die in den 1850er und 60er Jahren durch die sogenannten Zukunftsmusiker hervorgerufen wurde und die gesamte musikalische Welt in lebhaftester Weise erregte und aufwühlte. Aber daran ist schon deswegen nicht zu denken, weil man in jener Zeit um Prinzipien kämpfte, heutzutage sich aber vergeblich umsieht nach den leitenden Gedanken, durch die die vorhandene Wirrnis zu erklären wäre. Viel eher möchten wir letztere zurückführen auf eine Wechselwirkung, die zwischen den verschiedenen Künsten stattgefunden, da ja in Dichtkunst, Malerei, Bildhauerei, Architektur, ja sogar in der Schauspiel- und Tanzkunst neue Ziele ins Auge gefaßt und als allein erstrebenswert hingestellt worden waren. Konnte man den mit außerordentlichem Selbstgefühle vorgelegten Produktionen, die von dem neuen Verfahren Kunde geben sollten, anfänglich nur geringen Geschmack abgewinnen, und benannte man die etwa um 1885-90 sich eröffnende Epoche, um eine bequeme Bezeichnung zur Hand zu haben, mit dem Namen fin de siecle, so war die Gleichzeitigkeit dieser Bewegungen doch so auffällig, daß es wohl begreiflich erscheint, daß sie auch auf eine Kunst Einfluß äußern konnten, die eigentlich durchaus keine Veranlassung hatte, sich ihnen anzuschließen. In der Tonkunst war nämlich gerade kurz vor dieser Zeit eine große, überaus heftige Bewegung zum Abschluß gekommen und man hatte allen Grund, einer friedlichen Weiterentwicklung entgegenzusehen.
Denn die Zukunftsmusik hatte im großen ganzen gesiegt, die von ihr angestrebten Ziele erreicht, und eine Fortdauer der Gärung und Umwälzung erschien keineswegs nötig.
Fragen wir nach den Zielen, die die Zukunftsmusik ins Auge gefaßt hatte, so müssen wir sagen: Sie erstrebte Freiheit und zwar Freiheit von Fesseln, die zum Teil schon Beethoven, Schubert, Chopin, Schumann und Berlioz gebrochen hatten. Im wesentlichen richtete sich die Bewegung gegen den Geschmackskodex, der vom Leipziger Gewandhaus ausgehend und durch Mendelssohns gefeierte Persönlichkeit und Autorität gestützt, die Kompositionstätigkeit dermaßen einengte, eine frische Weiterentwicklung dermaßen unmöglich machte, daß, sollte überhaupt ein weiterer Fortschritt im Auge behalten werden, diese allzu engen Fesseln gesprengt werden mußten.
Eine nicht zu verachtende Hilfe hatte die vorwärtseilende Zeit gewährt, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch die Herrschaft des Dampfes und der Elektrizität ganz bedeutend geändert, ihre gewaltigen Einwirkungen überall, also auch in den Künsten äußern mußte. Wir fuhren nicht mehr wie Beethoven in der Postkutsche und das Posthorn der Sonate l'adieu, l'absence et le retour konnte nur noch als Erinnerung an Vergangenes auf die Seele wirken. Wir begannen im Zeitalter des Verkehrs zu leben, große Entfernungen für gering zu achten und in großen Reisen nichts Wunderbares mehr zu sehen. So mußte denn auch die ängstliche Beschränkung auf die Haupttonart, der vorsichtige Gebrauch weitgehender Modulationen, der Schreck vor sogenannten harmonischen Kühnheiten, die man gern als geschmacklos bezeichnete, und vor geschärften Dissonanzen verschwinden. Und alles dies um so eher und leichter, als die vorgenannten Meister bereits ganz erhebliche Vorarbeiten geleistet hatten und es sich nur darum handelte, ihre Errungenschaften an die Oeffentlichkeit zu bringen, zum Allgemeingut zu machen und Vorteil von ihnen zu ziehen. Mußte ja doch der von Bach und Händel so lebensvoll gestaltete Kontrapunkt gewissermaßen erst wieder dem frischen Leben der Gegenwart zugeführt werden, da man ihn am liebsten wie eine wohlkonservierte Mumie in seinem bisherigen Zustand belassen und bloß für die strenge Kirchenmusik reserviert hätte. Denn, wie man sich äußerte, stände er der freien Musik fremd gegenüber und werde sich ihr nie gut einfügen! Im freien Satze sollten wir also auf dies so eminent künstlerische Hilfsmittel bloß deswegen verzichten, weil man dasselbe für unveränderlich hielt und sich weigerte, es lebenskräftig zu gestalten und dem modernen Stil anzupassen.
Am heftigsten war im Anfang um Wagner der Kampf entbrannt, und zwar um Tannhäuser und Lohengrin, und wie erbittert dieser sich gestaltete, welch bösartigen Angriffen die damaligen Verteidiger des Meisters ausgesetzt waren, haben die Herren Dirigenten, die zu einer Zeit sich Wagners Dienste weihten, wo ein solches Eintreten viel bequemer und einträglicher war, wohl kaum geahnt. Tannhäuser vollendete seinen 1852 begonnenen Siegeszug durch Deutschland mit der vier Jahre später erfolgenden Aufführung in Berlin; Lohengrin fiel zuerst eigentlich überall durch, gewann aber, als die Aufführungen verständnisvoller und die Sänger mit dem Stil vertrauter geworden waren, die Herzen des Volkes in solchem Maße, daß er an Wirkung seinen Vorgänger nicht nur erreichte, sondern geradezu überholte. Wenn der große Meister dann noch bis zu seinem Tode angefeindet wurde und zu kämpfen hatte, so geschah es, weil er, von dem Erreichten nicht befriedigt, wie Beethoven stets vorwärts strebte, neue Ziele ins Auge faßte und dem Publikum, das inzwischen mit seinem früheren Stile vertraut geworden war, immer neue Rätsel aufgab. Bald nachher änderte sich aber alles dermaßen zu seinen Gunsten, daß nicht nur die echt deutschen und hierdurch so anheimelnden Meistersinger, - nein der gewaltige Ring, über den man so viel und so geistlos gewitzelt und vor dessen riesiger Ausdehnung man so ängstlich zurückgescheut hatte, geradezu populär wurden und nur Tristan und Parsifal noch eine respektierte Ausnahmestellung einnahmen, die aber auch nicht von langer Dauer sein wird. Das Ausland, geraume Zeit feindlich und widerstrebend, wurde völlig für den Meister gewonnen, Bayreuth erhielt den Charakter eines europäischen KunstMekkas und die Einwirkung Wagners auf die gesamte produzierende Musikwelt zeigte sich so deutlich, daß in allen neueren Schöpfungen von Bedeutung, seien es französische, russische, skandinavische, ja selbst italienische und englische, sein machtvoller Einfluß zu spüren ist.
Dieser große und sich immer fühlbarer machende Sieg mußte natürlich auch dem Meister zugute kommen, der als das sichtbare Haupt der Bewegung in Weimar deren Anhänger um sich scharte, solange Wagner im Exil zu leben gezwungen war. Franz Liszt, der, um seine Komponistennatur zur Entfaltung zu bringen, sich nach Weimar zurückgezogen hatte, bewährte natürlich in erster Linie eine große Anziehungskraft all den jungen Pianisten gegenüber, die ihn wie ein Weltwunder anstaunten und seine Unterweisung begehrten. Aber die von 1856 ab veröffentlichten symphonischen Dichtungen, von den Konservativen heftig angegriffen und geradezu verspottet, zeigten den Klarerblickenden, daß Liszt, der als darstellender Künstler sich unzweifelhaft wie ein Genie ersten Ranges erwiesen hatte, auch als Komponist ernst zu nehmen sei und insbesondere in der Anlage seiner großen Orchesterwerke als wirklich genialer Künstler berühre. Gleich Berlioz und dem frühem Wagner bevorzugte er die Programmusik, der auch Weber und Mendelssohn in ihren Ouvertüren gehuldigt hatten, und bewies durch die Wahl seiner Stoffe einen ebenso idealen Sinn wie geläuterten Geschmack, indem sie der Verherrlichung durch die Tonkunst würdig erschienen und der musikalischen Behandlung keineswegs widerstrebten.
Die Programmusik verlangt, wenn sie ihr Ziel erreichen und einen poetischen Stoff tonkünstlerisch umgestalten will, überzeugende Deutlichkeit, und dieser Deutlichkeit müssen natürlich manche rein musikalische Konvenienzen zum Opfer fallen. Natürlich wird die Instrumentation in erhöhtem Maße in Anspruch genommen, werden ihre Mittel gesteigert und geschärft werden müssen, aber auch auf melodischem, harmonischem, rhythmischem Gebiet wird sich die Einwirkung des zu versinnlichenden Stoffes fühlbar machen und besonders die formelle Gestaltung des Stückes nach dem Wesen dieses Stoffes zu richten haben. Die dramatische Opernmusik wird sichtlich in die mehr lyrisch-epische, instrumentale sich hereindrängen und diese durch die dramatischen kühnen Ausdrucksweisen bereichern und umgestalten. In der Komturszene des Don Juan, dem Kerkerquartett des Fidelio, der Wolfschluchtsmusik des Freischütz und verschiedenen unheimlichen, mit harmonischer Kühnheit gestalteten Stücken Marschners hatte sich die Musik bereits vor Wagner Freiheiten gestattet, die nun auch der erzählenden Tonkunst zugute kommen sollten. Wo frappante Gegensätze zu veranschaulichen waren, konnten weit entfernte Harmonien einander gegenübergestellt, wo uns furchtbare Erscheinungen gezeigt wurden, die Dissonanzen wesentlich geschärft werden. Aber auch die Melodik mochte neue, von der alten Theorie kaum gestattete Züge sich erlauben, wenn es, wie in der Faustsymphonie, darauf ankam, den hochaufstrebenden Sinn des Weisen, oder, wie in der Mazeppadichtung, den verzweifelten Ritt des todgeweihten Jünglings darzustellen [1]. Kühnere Modulationen ergaben sich bei angestrebter Frische des Ausdrucks von selbst, sowie, durch die dichterische Unterlage gefordert, eine freiere formelle Gestaltung. Erschien diese bei Liszt, was Gleichmäßigkeit der Verhältnisse und zielbewußte Führung zu Höhepunkten anlangt, einwandfrei, so überraschte der Künstler auch durch eine Neuerung, die wir eigentlich zwar Franz Schubert verdanken, die Liszt aber erfolgreich benutzt und dem allgemeinen Verständnis nahegebracht hat. - In seiner berühmten „Wandrerphantasie" hatte Schubert das Thema des ersten Satzes im dritten zu einem flotten Scherzo umgewandelt, während es uns im Finale als Hauptgedanke eines Fugato entgegentritt. Dieser Anregung war Liszt gefolgt, als er in seinem Tasso die traurige Weise der Gondoliere zu einem höfischen Menuett umgestaltete, tun sie schließlich als triumphierenden Huldigungsmarsch erschallen zu lassen, - in den Preludes [2] die Liebesmelodie als Pastorale und schließlich, ganz energisch, als Kriegsmarsch wieder vorführte und in der Faustsymphonie, um Mephisto zu kennzeichnen, alle Themen des Faustsatzes ironisiert und karikiert an uns vorüberziehen ließ. Auch sei nicht vergessen, an seine beiden Konzerte zu erinnern, deren ganzer Inhalt von einem einzigen Rahmen umschlossen wird, sowie an die ebenfalls einsätzige gewaltige h moll-Sonate, bei der er nach dem großangelegten ersten Teil des Hauptsatzes gleich das Adagio einschiebt, um dann mit fugierter Durchführung und Repetition den Hauptsatz zum Schluß zu bringen.
Haben die symphonischen Schöpfungen des Meisters, von denen mehrere übrigens heute ziemlich häufig zur Darstellung gelangen, nicht solche Popularität errungen, wie gewisse Orchesterwerke früherer und auch neuerer Meister, so liegt das an Stileigentümlichkeiten Liszts, auf die näher einzugehen hier der Raum fehlt. Sein aphoristischer, zerrissener Satzbau, sowie eine auffällige Freude an harmonischen Absonderlichkeiten hatten auf die Konservativen störend gewirkt. Bedenklicher will aber vielleicht eine Manieriertheit der Ausführung erscheinen, die sich auf gewisse, überall wieder verwendete Rezepte verläßt. Hierdurch unterscheidet sich Liszt von Wagner, wie auch ganz bedeutend von Berlioz, deren Ausarbeitung in jedem Werk neu und diesem speziell angemessen erscheint.
Anderseits steht uns freilich Liszt durch die glückliche Wahl seiner Stoffe näher als der französische Meister, der manchmal hierdurch abstößt und aus diesem Grunde vielleicht bei uns nicht so heimisch geworden ist, wie es nach seinen früheren großen, in Deutschland errungenen Erfolgen zu erwarten gewesen wäre.
Bekanntlich wollte Berlioz selbst von der Zukunftsmusik nicht das geringste wissen, sprach sich tadelnd über die Lisztsche Schule und die von ihr gewagten Kühnheiten aus und stellte sich Wagner bei Gelegenheit der Tannhäuser-Aufführung in Paris fast feindlich gegenüber. Aber die Weimaraner Zukunftsmusiker und alle, die sich zur neudeutschen Schule (wie sie jetzt genannt wurde) bekannten, rechneten den so uroriginellen Meister, der die moderne Instrumentation in überraschender Schnelligkeit entwickelt und auf den Gipfel geführt hatte, unentwegt zu den Ihren und taten recht daran, da sein ganzes Schaffen oppositionell, von enormstem Fortschrittsdrang beseelt und doch auch wieder positiv anregend erschien und berührte. Auch hat er auf die Anhänger der Schule (insbesondere Bülow, Comelius, später Saint-Saens) [3] ganz entschieden und wohl ebenso stark wie Liszt eingewirkt und sind beider Meister Errungenschaften der Kunstentwicklung zugute gekommen. Gleich Wagner haben also auch sie sich siegreich erwiesen gegenüber den Konservativen, die sie von ihrem Platz nicht verdrängen, die freiere Weiterentfaltung der Tonkunst nicht aufhalten konnten.
Versucht wurde dies allerdings mit allen Mitteln und angefeindet wurden Berlioz und Liszt nicht weniger als Wagner. Auch verhielt sich die Kritik auf Jahrzehnte hinaus so reaktionär, daß man heutzutage, wo gerade auf diesem Felde ein ganz radikaler Umschlag erfolgt ist, den damaligen Kunstberichten wie einem unfaßbaren Rätsel gegenübersteht. Aber es war eine Freude damals zu leben, denn man kämpfte für Prinzipien und zwar auf beiden Seiten und wußte, was man wollte.
Uebrigens beschränkten sich die Konservativen nicht auf die literarische Fehde; denn sie stellten für ihre Sache einen praktischen Vorkämpfer ins Feld. Nachdem nur wenige Jahre hindurch die Welt sich mit der Frage der Zukunftsmusik beschäftigt hatte, begab sich ein junger Mann, von Robert Schumann als musikalischer Messias verkündet, zu Liszt und trat, nach freundlichem Empfang in Weimar, dem Leipziger Gewandhauspublikum als Pianist und Komponist entgegen. Es war Johannes Brahms, der anfänglich der Schumannschen Schule zugezählt, später aber, als diese die Mendelssohnsche verdrängt hatte, zu ihrem Haupte erwählt ward. Letzteres geschah wohl in der Hoffnung, Wagner und der gesamten Zukunftsmusik einen Gegner gegenüberzustellen, der ihre Erfolge verdunkeln sollte. Und daß Brahms wie die Schumannsche Schule sich als gegnerisch gesinnt empfanden, erhellt deutlich aus dem in Hans von Bülows Briefen abgedruckten Zirkular, das die hierfür Interessierten im dritten Band Seite 312 nachlesen mögen.[4]
Auf diese Gegnerschaft, in der Brahms bis zu seinem Tode verblieb, hier einzugehen, erschien nur nötig, weil die Konfusion, die gegenwärtig in den allgemeinen Anschauungen vorherrscht, zum Teil durch das Verkennen dieser gegnerischen Haltung hervorgerufen worden ist. Bezeugt wird sie aber aufs deutlichste durch die intime Freundschaft, die Brahms bis zu seinem Heimgang mit Hanslick, Wagners verbissenstem Widersacher, verband.[5] Daß der betreffende Künstler das vollkommene Recht besaß, einer ihm unsympathischen Richtung gegenüber sich abwehrend zu verhalten, sei hier ausdrücklich anerkannt. Und ebenso, daß unsre Literatur ihm eine reiche Anzahl wertvoller Werke, insbesondere für Kammermusik, verdankt, denen er auch die weiteste Verbreitung zu sichern gewußt hat. - Die Zukunftsmusik aus der Welt zu schaffen, gelang ihm aber ebensowenig, wie der Schumannschen Schule, und so sah man sich, nachdem die erstrebten Ziele erreicht waren, vor die Frage gestellt: Was soll nun geschehen?
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Leider geschah das Richtige nicht. Denn dies hätte sich darin gezeigt, daß die erreichten Resultate zum Nutzen der Kunst ausgiebig verwendet worden wären. Ist allen menschlichen Schöpfungen die unbedingte Vollkommenheit versagt, so waren auch diejenigen, aus denen jene Resultate uns entgegenleuchten, nicht schlackenfrei geblieben, zeigten vielmehr oft genug, wie mühsam das Neue errungen worden, und ließen vielfach jene formelle Glätte vermissen, die dem auf gebahnten Wegen dahinschreitenden Künstler so leicht wird. Alle neuen Resultate in klassischer Ausdrucksweise und Form zur Geltung zu bringen, wie dies auf bewunderswürdige Weise im Tristan-Vorspiel geschehen ist, wäre als eine lohnenswerte Aufgabe erschienen nicht nur für einen einzelnen, sondern eine ganze Generation von Künstlern und wohl des Schweißes eines Edlen wert.
Es sind auch auf Berlioz' und Liszts Pfaden verschiedene Künstler weitergeschritten und Saint-Saëns hat insbesondere gezeigt, daß die symphonische Dichtung in wohlgeschlossener Form möglich ist, wenn auch zugegeben werden muß, daß er sich leichtere und kleinere Aufgaben gestellt hat, als Liszt. Und ebenso ist auch erwiesen worden, daß die frühere Symphonieform weiter gepflegt und entwickelt werden könne der Programmusik gegenüber, in der man später das alleinige Heil erblickte.
Anders stand es freilich mit der Oper, denn auf diesem Felde erstarb plötzlich alle Tätigkeit. Tristan insbesondere, der so viel Neues und Ungewohntes bot, daß auch die fortschrittlich gesinnten, von der Notwendigkeit der Wagnerschen Opernreform durchdrungenen Komponisten sich anfangs darin nicht gleich zurechtzufinden wußten, wirkte auf diese fast lähmend und verhinderte sie für eine gewisse Zeit am Produzieren.[*] Als dann schließlich die sogenannten Wagnerianer hervortraten mit ängstlichen und sklavischen Nachahmungen des späteren Wagnerischen Stiles, brachten sie wenig Wirkung hervor und erfuhren von seiten des Publikums keine besondere Aufmunterung. Mozarts eigentliche Nachfolger waren freilich auch nicht Weigl und Winter gewesen, sondern Boieldieu und Rossini.[6] Zwei durchaus selbständige Meister, die ohne Mozart zu erreichen in ihrer Weise doch sehr originell schufen und die Welt durch Werke wie die Dame blanche und den Barbier von Sevilla bereicherten, deren Lebenskraft noch auf lange Zeit hinaus vorhalten dürfte. Von Mozart waren sie angeregt und befruchtet, schufen aber selbständig und ohne sich ängstlich an ihn anzuklammem. Und dies hatte sie befähigt, als seine vorzüglichsten Nachfolger auf seinen Bahnen weiter zu schreiten und andere, ihrer Begabung angemessene Ziele zu erreichen. Wer in dieser Weise aber Wagner nachzufolgen trachtete, wurde, wenn nicht als Abtrünniger verketzert, doch zum mindesten nicht verstanden und in seinen Bemühungen viel mehr gehemmt als gefördert
War somit im fortschrittlichen Leben eine Art Stagnation eingetreten, so hatte die Propaganda für Brahms desto größere Fortschritte gemacht. Mit diesem Meister war auch eine Anzahl von Zukunftsmusikern in nähere Berührung gekommen, die sich für seine Werke sehr erwärmten, an deren konservativer Haltung keinen Anstoß nahmen, ihre eigne Sache aber, ohne daß es ihnen vielleicht zum Bewußtsein gekommen, aufs verhängnisvollste gefährdeten. Wunderbarerweise fügte sich auch die Kritik in diesen Zustand, und als dann das Publikum ebenfalls anfing, die Neudeutschen und die Brahms-Anhänger zu vermengen und unter demselben Gesichtspunkt zu betrachten, war natürlich die Konfusion, die noch jetzt in der Tonkunst herrscht, schon damals (etwa um 1880) auf eine recht ansehnliche Höhe gestiegen. Oder soll man es nicht als Konfusion bezeichnen, wenn eine Partei, die im wesentlichen alles von ihr Verfochtene durchgesetzt hat, mit dem von der Gegenpartei aufgestellten Meister gemeinsame Sache macht und weder Kritik noch Publikum die betreffenden Werke mehr auseinander zu halten vermögen? Darf man da nicht kühnlich behaupten, daß die heutige Musik rechts und links nicht mehr zu unterscheiden weiß?
Wenn die neueste Entwicklung der Tonkunst einen für die Kunst gefährlichen Charakter annahm und die Gärung in Permanenz erklärte, so ist es wohl gestattet, auf die vorerwähnte Fusion mit dem ausgesprochenen Gegner der Partei, durch welche die errungenen Siege wieder in Frage gestellt wurden, hinzuweisen, da durch diese unnatürliche Verbindung die nachfolgenden jüngeren Künstler sich leicht zu ungestümerem Gebaren veranlaßt fühlen konnten.
Fragen wir nun, was tatsächlich geschehen ist, so haben wir hierauf schon insoweit geantwortet, als wir sagten, die Gärung sei in Permanenz erklärt, die Revolution des Revolutionierens wegen fortgesetzt worden. Auf revolutionäre Weise waren bisher allerdings alle musikalischen Fortschritte errungen worden. Die große Bewegung, die um 1600 den Einzelgesang und die Oper ins Leben rief, hatte ja an nichts Geringeres gedacht, als die gesamte Arbeit, die in zwei Jahrhunderten die Niederländer, Römer, Spanier und Deutschen geleistet, zu vernichten und als unkünstlerische Barbarei zu bezeichnen. Gegen eben diese Oper, die ihre hohen Ziele aus den Augen lassend ein sinnloser Singsang geworden war, wandte sich dann der Kampf Glucks [7] und seiner Anhänger und zwar mit solcher Heftigkeit, daß dem ausgearteten Kunstgesang ein schmähliches Ende bereitet ward und das dramatische Prinzip wieder zur Geltung kam. Die Zukunftsmusik aber hatte mit Wagner ein viel höheres dramatisches Ziel angestrebt und schon dieses Zieles wegen, aber auch, um überhaupt Raum zu freierer Bewegung sich zu erkämpfen, eine Menge von Fesseln gebrochen, ohne deren Zerstörung die Komponisten, die den Inhalt ihrer Zeit aussprechen wollten und hierfür nach neuen Ausdrucksmitteln suchten, gar nicht die nötige Bewegungsfreiheit sich hätten erringen können. Zerstörung bestandener Bedingungen war also bisher mit dem Fortschritt stets verbunden gewesen und so konnte es begreiflich erscheinen, daß man schließlich beide Begriffe verwechselte. Freilich waren den eben erwähnten revolutionären Bewegungen längere friedlichere Zeiträume gefolgt, in denen die neuen Errungenschaften ausgenutzt und fruchtbar gemacht, und auch weitere in ruhiger Weise erworbene ihnen zugesellt wurden. Unmittelbar war auf eine große Bewegung nie gleich die nächste gefolgt und ohne zwingende Veranlassung hatte man früher keine Revolution in Szene gesetzt.
Hier hätte die Kritik, die in früheren Zeiten sich so gern als Hüterin alter geheiligter Traditionen gebärdet hatte, vollauf Gelegenheit erhalten, sich als Helferin zu erweisen, aber leider versagte sie gerade in diesem entscheidenden Momente. Hatte man ihr früher vorgeworfen, daß sie das lebenskräftige Neue nicht zu erkennen wisse, so eilte sie jetzt womöglich den produzierenden Künstlern voran und verurteilte alle, die noch einigermaßen auf Ordnung und Form sahen, als langweilige Rückschrittsmänner. Wollte man aber in diesem Verfahren einen Fortschritt oder auch nur eine Veränderung ihres früheren Verhaltens finden, so würde man irren. Denn das Publikum wehrte sich nicht gegen das tolle Gebaren der Künstler, akzeptierte bereitwillig den Kultus des Häßlichen, dem sie sich ergaben, und die Kritik - verfuhr nicht anders als früher, und machte eben die Mode mit. Hatte sie es ehemals mit den alten Meistem gehalten und Pietät geheischt für alle Leistungen, die der Zeit getrotzt und lebendig geblieben waren, so trat sie der heillosen Impietät, die sich in der Neuzeit mehr und mehr ausbreitete, leider nicht mit der wünschenswerten Schärfe entgegen. Freilich hatten schon viel früher tolldreiste Zungen sich an Haydn und Mozart herangemacht, aber jetzt gingen sie weiter und weiter, ließen eigentlich nur noch Wagner unangetastet und bewiesen durch ihre albernen Urteile, daß ihnen jeder historische Sinn mangelt, sie also die Bedingungen, unter denen die betreffenden Kunstwerke entstanden, nicht mehr begreifen. Bach wurde allerdings verehrt, weil er äußerst kompliziert erscheint und seine Härten für die Verehrer des Häßlichen etwas Anheimelndes besitzen. Auch kann man sich nicht wundem, wenn diese Bach-Verehrer über die ersten harmlosen Erzeugnisse des freien Satzes die Nase rümpfen, indem sie ihrem überreizten Geschmack zu einfach erscheinen. Gewisse Gedanken mußten aber zum erstenmal ausgesprochen werden, und wenn sie dann später trivial erschienen, so kam es, weil alle Welt sich daran erfreut und die komponierenden Nachfolger sie bis ins Unendliche wiederholt hatten. Gewisse Schlußwendungen, die wir auch bei Bach, und zwar recht zopfiger Art, antreffen, waren Zeitbedingungen, unter denen allein das Publikum die künstlerische Darbietung entgegennahm und die mit dem eigentlichen Inhalte nichts zu tun hatten. Von den gegenwärtigen pietätlosen Beurteilern werden diese Nichtigkeiten aber häufig genug für das wesentliche angesehen, während sie vor dem Kein der Schöpfung Auge und Ohr verschließen.
Wie nicht zu leugnen ist, kann auch ein Teil der ausführenden Künstler einigermaßen für das Anwachsen dieser Impietät verantwortlich gemacht werden. Es ist erstaunlich, mit welcher Gleichgültigkeit man oft nicht nur Mozart, nein gegenwärtig auch Beethoven, wenigstens seine früheren Sonaten, herunterspielt, als wären es empfindungsbare, etüdenartige Schöpfungen, bei denen ein möglichst schnelles Abspielen als Hauptziel ins Auge zu fassen ist. Diese Werke sind aber erfüllt von inniger Seelensprache, tiefer Gemütswärme, und wie sollten diese bei derartiger Wiedergabe zu ihrem Recht kommen, wie die Zuhörer an ihnen sich erfreuen können? Zwar steht dies unsinnige Zuschnellspielen im innigen Zusammenhange mit einer Zeit, in der die Kunst Geschäft und das Wort „time is money" ausschlaggebend geworden ist. Aber die Kunst fährt schlecht dabei und könnte erheblichen Schaden leiden, wenn viele ausführende Künstler die großen Werke der Vergangenheit in derselben Weise weiter behandeln wollten.
Hatten wir vorher erkannt, daß nach dem Siege der Zukunftsmusik ein zwingender Grund, in revolutionärer Weise weiter vorzugehen nicht gegeben war, so war uns doch auch nicht verborgen geblieben, daß in den Schwesterkünsten ähnliche Bewegungen sich kundgaben und natürlich sehr leicht auf die Tonkunst einwirken konnten.
Ein eigentümlicher Drang, die Natur in ihrer nackten Wesenheit künstlerisch zur Erscheinung zu bringen und die Verklärung der Natur durch die Kunst als verderblichen Irrtum abzuweisen, ein Drang, den man Verismus genannt hat, ist gleichzeitig in allen Künsten zutage getreten. Zwar lag der Gedanke nahe, daß man unter diesen Umständen überhaupt auf die Kunst verzichten und sich mit dem prosaischen Leben begnügen könne; aber da die verschiedenartigsten Künstler sich in derartigen Schöpfungen versuchten, war man doch genötigt, der Frage nahezutreten und sich eingehend mit ihr zu beschäftigen. Vor allen Dingen fragt es sich, ob dieser Verismus, der natürlich nicht mit Realismus oder Naturalismus [8] zu verwechseln ist, in der Tonkunst möglich erscheint. Daß in ihr der Realismus vollauf Platz gefunden von Cavalli [9], der das Stottern eines Dieners ganz ergötzlich illustriert hat, bis zu Wagners Nachtwächter in den Meistersingern, mag hier nur nebenbei erwähnt werden. Auch ist zuzugeben, daß der Verismus, weit über den alten Realismus hinausgehend, in andern Künsten sich oft mit erschreckender Deutlichkeit kundgetan hat, besonders in der Malerei und Poesie. Hört man in G. Hauptmanns „Hannele" [10] die Armenhausbewohner oder den Vater des kranken Mädchens in ihrem unverfälschten häßlichen Dialekte reden, so wird man zugestehen müssen, daß in bezug auf die Dar Stellung der nackten Lebenswirklichkeit kaum weiter gegangen werden könne.
Aber in der Musik kann man dies nicht nachmachen, denn man spricht nicht, man singt, bedient sich also einer idealen Sprache, die für gewöhnlich die Menschen nicht anwenden. Und in der modernen Oper, insbesondere im Wagnerschen Musikdrama, singt man vom Anfang bis zum Ende des Werks. Somit erscheint der Verismus in der Oper schon deswegen ausgeschlossen zu sein, weil die Musik als ideale, über die gewöhnlich benützte, hinausgehobne Herzenssprache diesen Verismus überhaupt nicht zuläßt. Sollte er trotzdem Eingang finden, so müßte die Tonkunst vorher in den Stand gesetzt werden, die allemüchternste Prosa auszudrücken, was keineswegs als lockendes Ziel erscheinen will. Es bliebe für den Verismus demnach nur die instrumentale Musik übrig. Und in diese hat er denn auch seinen Einzug gehalten mittels der Programmusik, in der man plötzlich das allgemeine Heil erblickte und, um deren Deutlichkeit ins Ungemessene zu steigern, der Kunst in einer Weise Gewalt angetan wurde, wie zwei Jahrzehnte zuvor dies wohl niemand für möglich gehalten hätte.
Unbedingt ist der in dieser Beziehung am allerweitesten vorgeschrittene Künstler, von Haus aus in ungewöhnlicher Weise für die Musik befähigt, als Schöpfer sehr kühner, aber höchst interessanter Kunstwerke zu bezeichnen, die insbesondere durch eine hochgesteigerte virtuose, auch in den Kammermusikwerken sich nicht verleugnende Instrumentation fesseln. Aber der Verismus hatte sich seiner bemächtigt und trieb ihn an, und zwar mit zielbewußtem Willen, sich dem Kultus des Häßlichen zu ergeben und der Kunst in bis dahin unerhörter Weise Gewalt anzutun. War bei mehreren Schöpfungen humoristischer Art der so äußerst weit getriebene Realismus einigermaßen durch das Darstellungsobjekt entschuldigt worden, so zeigte sich in späteren, in denen noch Ungeahnteres gewagt wurde, daß der abschüssige Weg nicht verlassen und die große Hoffnung, die uns angesichts dieser Erscheinung aufgegangen war, nicht erfüllt werden sollte. Es schien beinahe als ob ein unheimlicher Trotz diesen Künstler, der für alle seine Darbietungen willige Zuhörerschaft fand und dem besonders die jederzeit oppositionslustige Jugend huldigte, angetrieben hätte, immer tolldreister auf dem eingeschlagenen Pfade weiter zu schreiten, als wollte er sagen: Ihr wehrt euch ja nicht; ihr laßt euch ja alles von mir gefallen! Nun, da will ich doch mal sehen, was man sich alles erlauben kann! Auf diese Art gelangte er denn zu Resultaten, die mit der Musik als Kunst nichts mehr zu tun haben. Denn rein musikalisch lassen sie sich nicht mehr erklären. Und dies ist bei Berlioz, Wagner, Liszt immer noch möglich gewesen, obwohl sie manchmal vor ganz kühnen Wagnissen durchaus nicht zurückgeschreckt sind. Und so gelangte der Verismus auch in die Oper, denn was hier zeitweilig uns vorgesungen wird, wird wohl vor dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht leicht jemand für Gesang gehalten haben. Wie weit wir uns schon von dem, was wir noch vor nicht langer Zeit unter Musik verstanden, entfernt haben, möge die Aeußerung eines jungen Künstlers dartun, der meinte, daß, wenn man die betreffenden Stellen einer gewissen Tondichtung auch nicht nein musikalisch erklären könne, die Idee des Schöpfers doch begreiflich erscheine. Worauf natürlich nur die Antwort zu geben war, daß es bei solcher Sachlage sehr bedauerlich sei, daß der betreffende Komponist gerade die Musik und keine fügsamere Kunst zum Ausdrucksmittel seiner Ideen erkoren habe.
Ist es uns klar geworden, wie der Führer der neuen Bewegung auf solche abschüssige Bahnen geraten konnte und war es dabei immer noch möglich gewesen, sich an seinen früheren, viel wohltuenderen, musikalischer anmutenden Werken zu erfreuen, so werden wir auf diese Genugtuung verzichten müssen, wenn wir uns den Werken derer, die ihm gefolgt sind, zuwenden.
Vor allem überrascht in ihnen die fast durchgängig versagende Erfindung. Kläglicher und kärglicher, als je, ist sie beinahe ganz eingeschrumpft und die Themen sind als solche oft kaum zu erkennen. Von einer festen und klaren Zeichnung konnte man schon seit längeren Zeiten nichts mehr berichten; gegenwärtig möchte man immer nur acht geben, daß man die angeblichen Hauptgedanken nicht geradezu übersieht. Mendelssohn hatte in seiner späteren Schaffenszeit, durch seine virtuose Kompositionstechnik verführt, auf die Erfindung weniger Wert gelegt und sich oft an ziemlich gehaltlosen Phrasen genügen lassen, um zu zeigen, daß er auch auf diesen unbedeutenden Grundlagen ausgedehnte und wohlgeformte Bildungen aufbauen könne. Und die Schule des Meisters [11], der es gar sehr an eigenartiger Erfindung gebrach, hätte nur zu gern dieses Beispiel nachgeahmt und die gesamte Melodik damit beinahe zum Versiegen gebracht.[**] Hiergegen war aber ganz besonders die Zukunftsmusik ins Feld gezogen, deren drei Meister sich mit so unbedeutenden und nichtssagenden Motivchen nie begnügen mochten und zu deren Sieg die frischen und ganz eigenartigen melodischen Bildungen, über die sie geboten und die am deutlichsten uns vielleicht in Tannhäuser und Lohengrin entgegentreten, nicht zum wenigsten mit beigetragen haben. Mit der gegenwärtigen melodischen Dürre ist man also auf den Standpunkt der Mendelssohnschen Schule zurückgekehrt, gegen die im Anfang der Bewegung sich der Hauptkampf gerichtet hatte, und es kann somit hier von keinem Fortschritt, eher vielmehr vom Gegenteile die Rede sein.
Die Harmonik, der Beethoven eine so sorgliche Pflege gewidmet und die er in seiner letzten Periode so eigenartig gestaltet hatte, war dann von Schumann und Chopin dermaßen verfeinert und bis ins kleinste hinein ausgearbeitet worden, daß nach Seite der Intimität eine Ueberbietung unmöglich erschien, wohl aber nach der der Kraft und der frischen Wirkungen. Hierin war an einzelnen Stellen schon Beethoven kühn vorausgeschritten, und Weber wie Schubert hatten sich beeilt, ihm nachzufolgen. Schuberts weitgehende Modulationen haben später den sichtlichsten Einfluß auf Liszt geübt, während die Webersehen Wagnisse ganz ersichtlich auf die Wagnerschen früheren Opern eingewirkt und gewissermaßen der Harmonik des Meisters die Wege gewiesen haben.
In kühnen harmonischen Folgen hat, auf Schubert, Weber, Marschner, aber auch Berlioz und Liszt vorwärtsgehend, die Zukunftsmusik so vieles gewagt, daß eine Ueberbietung kaum möglich schien und man annehmen konnte, man würde dieses Element der Musik nun für einige Zeit in Ruhe lassen. Um so mehr, als man bei der Pflege der Programmusik auch die Dissonanzen, die für die Darstellung großen Elends und unglaublicher Greuel stärker als je in Anspruch genommen wurden, bereits in früher ungeahnter Weise verschärft hatte. Anderseits war aber in der Polyphonie, die nach längerer Vernachlässigung Mendelssohn wieder zu Ehren gebracht hatte, und später, wie Tristan und Meistersinger beweisen, sogar einen siegreichen Einzug in die Oper hielt, - der Tonkunst eines ihrer wirksamsten Mittel verblieben, das für die übermäßig verbrauchte Harmonik als sehr wertvoller Ersatz angesehen werden konnte.
Weshalb man dies übersah - und schließlich bei der abscheulichsten Kakophonie ankam, ist bloß zu begreifen, wenn wir uns klar machen, daß etwas anderes kaum mehr möglich erschien, sobald man nach wie vor auf Kosten von Melodie und Rhythmus die Harmonie einseitig ausnützen wollte. In dieser Beziehung ist nun, besonders im letzten Jahrzehnt, das Erdenklichste, ja geradezu Unglaublichste geleistet worden. Dreiklänge bekommen wir nur noch selten heute zu hören, da eine Art von dogmatischer Verblendung den jüngeren Komponisten die fortwährende Septimenbenutzung zu gebieten scheint, denen wir, und zwar großen und kleinen, auf Schritt und Tritt begegnen und auch da nicht entweichen können, wo einfache Konsonanzen allein angebracht wären und für die Septimenhäufungen auch nicht der geringste Grund namhaft zu machen ist. Daß auch die Nonen nicht fehlen, versteht sich von selbst, sowie gleichfalls, daß die schärfsten Dissonanzen uns fast stets unvorbereitet überfallen, sehr oft auf ihre Auflösung verzichten und auch nicht selten uns mit stärkster Instrumentation, Posaunen und Trompeten, vorgesetzt werden. Die bekannten Dissonanzen werden außerdem oft in einer Weise alteriert, die sie für maßvolle Musiker unerträglich macht und wodurch die Komponisten einem Ideale von Kakophonie zusteuern, das absolut nicht überboten werden könnte, wenn die rauhe Gegenwart uns nicht auch von dieser Möglichkeit überzeugte. Denn der letzte Schritt über die anscheinend unübersteigbaren Grenzen wurde auch noch getan, die rein musikalisch nicht zu erklärende Diskordanz an die Dissonan stelle gesetzt, damit aber auch das Gebiet der Musik definitiv verlassen. Melodische Bildungen werden über Akkorden ausgebreitet, die mit denselben in absolut keiner Beziehung stehen und demnach, über ihnen zu liegen, auch keine musikalische Berechtigung besitzen. Quintenfolgen, womöglich gleich zwölf nacheinander und der größeren Eindringlichkeit halber von Blechinstrumenten vorgetragen und mit höchst dissonierenden Kontrapunkten verpfeffert, bleiben uns auch nicht erspart, selbst weit entfernte Harmonien wie D dur und es moll werden uns zu gleicher Zeit (also zusammenklingend) vorgesetzt. Wir könnten noch weitere Beispiele aufzählen, wollen uns aber hieran genügen lassen. Außer der Zerstörungslust scheint hier eine Hyperblasiertheit tätig gewesen zu sein, die an den schärfsten und verwickeltsten Dissonanzen noch kein Genügen fand und infolgedessen sich Klänge aussann, die die Musik nicht kennt und bei gesunder Weiterentwicklung wohl auch nicht wieder verwenden wird.
Nach formeller Schönheit werden wir bei solch allgemeiner Regellosigkeit und Anarchie natürlich auch vergeblich ausschauen und infolgedessen auf die vielen Reize, die bei virtuoser Formgestaltung der Komponist früher entfalten konnte, Verzicht leisten müssen.
Bleibt also, da das rhythmische Element nach wie vor keine besondere Pflege erfährt, nur die Instrumentation übrig, die auffallend bevorzugt, und in welcher auch verhältnismäßig viel geleistet wird. Der Programmusik zuliebe strebt man außerordentlichste Deutlichkeit an und erreicht sie auch; aber der Gewinn scheint immerhin fraglich und durch zu viele andere Verluste mehr als aufgewogen. Wenn durch vier in kleinen Sekunden nebeneinander liegende und gleichzeitig erklingende Tuben das Geblök einer Schafherde zur Anschauung gebracht wird, so wirkt dies Resultat, obwohl nicht im mindesten musikalisch anmutend, jedenfalls sehr überraschend. Aber was ist eigentlich damit gewonnen? Und kann man sagen, daß durch derartige, wenn auch noch so sehr geglückte Versuche die Tonkunst einer höheren und gedeihlicheren Entwicklung zugeführt werden könne? Den einzigen wirklichen Gewinn davon würde die Oper haben, und zwar vorzugsweise die komische, indem hier, wo die Anschauung des szenischen Vorgangs der Phantasie des Hörers zu Hilfe kommt, die größte realistische Deutlichkeit am Platze ist und der Künstler sich ihretwegen viel eher große und weitgehende Freiheiten erlauben mag, als in der Orchestermusik, indem dort seine Phantasie dieser Hilfe entbehren muß. Mit ungefähr diesen selben Worten hat sich Wagner im Jahre 1859, wo er der Programmusik entschieden abgeneigt war, dem Verfasser vorliegender Abhandlung gegenüber ausgesprochen und die Vorspiele zu Tristan, den Meistersingem und Parsifal, die zwar Motive der nachfolgenden Werke verarbeiten, aber doch kaum für Schöpfungen der Programmusik angesehen werden können, scheinen zu beweisen, daß er seine Ansichten hierüber nicht geändert hat. Unsinnige Vermehrung der Mittel ist auch nicht von ihm für seine Instrumentalwerke in Anspruch genommen worden und nur in den Opern und zwar für die Bühnenmusik hat er zuzeiten außerordentliche Mittel gefordert. Weswegen die neueren Komponisten sie aber für die reine Instrumentalmusik benötigen, ist angesichts solcher Meisterbeispiele doch auffällig, und wie sehr dadurch eine Aufführung derartiger Schöpfungen erschwert wird, wird jedem Leser wohl ohne weiteres einleuchten.
All diesen Extravaganzen gegenüber hat leider ein großer Teil der zeitgenössischen Kritik nicht nur geschwiegen, sondern sogar in die Lobtrompete gestoßen und maßvollere Künstler, die diese Mode nicht mitmachten, als langweilige Reaktionäre angegriffen und verdächtigt. Aber auch solid ausgebildete Künstler, die über ein tüchtiges Können geboten, sind von der Bewegung erfaßt worden und haben, während sie früher über Berlioz' und Liszts gelegentliche Seitensprünge ganz erbost waren, sich unglaublich viel mehr von den neueren gefallen lassen. Nicht allein, daß sie vor vielen Dingen, die sie sonst nie durchgelassen hätten, die Augen und Ohren schlossen, sprachen sie dem ganzen Vorgehen sogar eine gewisse Berechtigung zu, die sie auch durch systematische Vorführung der betreffenden Werke bekräftigten und trugen damit zur höchsten Steigerung der gegenwärtig bestehenden Konfusion bei. Denn das musikalische Publikum, dem nun auch solide, in strenger Zucht aufgewachsene Künstler diese Unmusik als Musik vorsetzten, mußte natürlich verwirrt werden und dem gegebenen Beispiel willig folgend, schließlich auch die Mode mitmachen und das Häßliche für das allein erstrebenswerte Ziel anerkennen.
Es ist kein schönes Bild, das vor unsern Augen sich ausbreitet und einem ideal gesinnten Künstler muß es ein wahres und tiefes Seelenweh bereiten, wenn er Zeuge solcher Zustände in seiner hoch und heilig gehaltenen Kunst zu sein gezwungen wird. Wen als frühe Sonnenstrahlen am Morgen seines Lebens die neugeschaffenen Opern Tannhäuser und Lohengrin begrüßten, dem wird das Herz bluten, wenn er am Abend den qualmigen Nebeldunst wüster Unmusik einatmet und er wird sich vor die Frage gestellt sehen: Soll dies weiter so fortgehen?
Es wird leider so fortgehen, wenn niemand energisch dagegen seine Stimme erhebt, und dies schien beinahe zu fürchten. Einzelne Proteste sind zwar erhoben worden, aber die Gesamtlage der musikalischen Zustände zu schildern, hat noch niemand versucht und doch mußte es geschehen, wenn man die Schäden bloßlegen und zu deutlicher Anschauung bringen wollte. Man glaube um Gottes willen nicht, daß es sich von selbst ändern, gesunde Zustände von selbst auf die kranken und verfaulten folgen werden. Denn die Kunst hat schon bedenklichen Schaden gelitten und die Merkmale dieser Schäden machen sich fühlbar genug. Die jungen Komponisten finden es viel bequemer, ohne Beobachtung von Regeln zu arbeiten und alles hinzuschreiben, was ihnen gerade einfällt; merkwürdig ist es nur, daß sie in der ausführenden Kunst einer anderen Praxis huldigen, natürlich gezwungenermaßen, indem sie sonst weder eine Stimme schulen noch ein Instrument spielen lernten. In der Komposition verstehen sie aber gewöhnlich alles viel besser als die Lehrer und es erscheint wirklich verwunderlich, daß sie diesen nicht gleich von Anfang an den Rücken zukehren.
Was uns übrigens noch schlimmer dünkt, ist der verrohende Eindruck, den ein Kultus des Häßlichen, verbunden mit der Verachtung aller bisher gültigen Traditionen, auf die gesamte musikalische Welt, Laien wie Künstler, hervorrufen muß. Denn diese Entwöhnung vom Schönen, Einfachen und Wohlklingenden kann unmöglich gute Früchte tragen und den bereits merklichen Verfall der Kunst nur noch weiter steigern. Ja, sie könnte, wenn niemand sich wehrte und ihr kein Einhalt getan würde, sogar zum völligen Ruin führen, so daß die Sozialdemokraten, im Fall sie zur Herrschaft kämen und, wie mit allem Bestehenden, auch mit der Kunst aufräumen wollten, bei uns weiter nicht viel zu beseitigen finden würden.
Durch diese Befürchtungen sind vorliegende Zeilen veranlaßt worden; es ist ein Hilferuf, der auf Antwort wartet aus zustimmenden Künstlerkreisen, denn ein einzelner kann anregen, aber nur die Gesamtheit vermag zu wirken Wer diese Zustände im Lichte des Verfassers sieht, der gebe also seine Zustimmung kund und unterstütze eine Bemühung, die schon spät genug unternommen wird und deren Notwendigkeit hoffentlich vielen einleuchtet! Aber auch gegnerische Stimmen, wenn ihre Auslassungen sachlich gehalten sind, sollen willkommen geheißen werden, denn unter Umständen können sie klärend wirken und zum wahren Fortschritt mit beitragen.
Nur das faule „ laisser aller' kann von uns nicht geduldet werden; denn hierdurch wird nichts gebessert, vielmehr die nötige Heilung erschwert, wenn nicht völlig verhindert. Auf dem eingeschlagenen Wege weiter zu gehen ist aber schon deshalb unmöglich, weil es ganz unfaßbar erscheint, wie dieser Zusammensturz des Bestehenden, diese aufs Höchste getriebene Negation noch überboten werden soll. Hier hat nur der positive Aufbau eine Berechtigung, nicht die fortgesetzte Zerstörung.
Die Tonkunst ist das unbestrittenste Gut des deutschen Volkes gewesen und geblieben; denn selbst als die Greuel des Dreißigjährigen Krieges aus Deutschland eine Wüste gemacht und fast alle Kultur weggeschwemmt hauen, war sie unversehrt aus denselben hervorgegangen und einer unsrer größten Tonsetzer, Heinrich Schütz, hat unentwegt ihre Fahne hochgehalten und zu Ehren gebracht. Wahre dir dein teuerstes Gut, deutsches Volk, und laß dich nicht verblenden von Umstürzlern, die nicht den Fortschritt wollen, sondern nur den Umsturz! Von den warnenden Stimmen, die schon früher gegen ein solches Gebaren laut geworden sind, haben wir zwei dieser Abhandlung vorangesetzt. Am treffendsten und mit ganz wenigen Worten hat aber sich ein Mann bereits vor mehr als 1800 Jahren vernehmen lassen, und zwar kein Geringerer als der Apostel Paulus, indem er an die Römer schrieb: Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden.
- - - ENDE - - -
Nachschrift der Redaktion. Wir eröffnen den Jahrgang diesmal mit einem Kampfartikel. Es hieße Vogel Strauß-Politik treiben, wollte man verkennen, daß gegen den Entwicklungsgang der modernsten Musik eine Opposition besteht, und nicht minder falsch wäre wohl der Glaube, man könne etwa an diesen Widerstrebenden ohne weiteres vorübergehen. Denn, ist die Gegenbewegung auch noch mehr latent, hat sie sich auch noch nicht zu einem geschlossenen Vorgehen zu vereinigen vermocht, so versucht sie sich in einzelnen Aeußerungen tatsächlich um so mehr Geltung zu verschaffen. Ohne daß wir nun zu fürchten brauchten, uns dem Vorwurf der Unbeständigkeit auszusetzen, sind wir der Meinung, daß eine moderne Musikzeitschrift nicht die Pflicht oder auch nur das Recht habe, einem Standpunkt einzig und allein in ihren Spalten Ausdruck zu geben. Wir glauben vielmehr, daß in wichtigen Zeitfragen verschiedene Stimmen gehört werden müssen. Eine freie Aussprache also scheint uns hier der einzig richtige Weg zu sein, und so wollen wir ihn denn auch in diesem Falle ohne Zögern betreten. Gleichwie der Verfasser des vorstehenden Artikels, Felix Draeseke, der bekanntlich seinerzeit in den ersten Reihen der Kämpfer für Wagner und die neudeutsche Schule stand, fordern wir an dieser Stelle auf, zu den hier angeregten Fragen in der „Neuen Musik-Zeitung" Stellung zu nehmen. Sie erscheinen wichtig genug, vor einer weiteren Oeffentlichkeit erörtert zu werden.
* Cornelius' Barbier von Bagdad gehörte dem komischen Genre an, war vor dem Tristan entstanden und fiel bekanntlich bei der ersten Aufführung einer gegen Liszt gerichteten Intrige zum Opfer.
** So war zur Zeit, als der Verfasser das Leipziger Konservatorium besuchte, es bei den jungen Komponisten geradezu Stil geworden, jede einigermaßen sinnlich wohlgefäällige Melodie, die etwa einer von ihnen erfunden haue, als „italienisch" zu bezeichnen und damit auch zu verfehmen.
1. Liszts Faustsymphonie in drei Charakterbildern entstand 1854/57. seine symphonische Dichtung Mazeppa (nach Victor Hugo) 1851 und 1854.
2. Symphonische Dichtungen Tasso. Lamento e trionfo (nach Goethe und Lord Byron, 1849-1854) und Les Preludes (nach Alphonse de Lamartine, 1848, 1854).
3. Hans von Bülow (1830-1894), als Dirigent bahnbrechend für Wagner (er dirigierte u. a. die UA von Tristan und Meistersingern) und Brahms, Begründer des Ruhmes der Meininger Hofkapelle wie der Berliner Philharmoniker. Den jungen Richard Strauss holte er 1885 als Hilfsdirigenten nach Meiningen. Peter Cornelius (1824-1874), Komponist aus dem Kreise um Liszt und Wagner, Hauptwerk die komische Oper Der Barbier von Bagdad (1855-57). Der französische Komponist Camille Saint-Saëns lebte von 1835-1921.
4. Hans von Bülow, Briefe und Schriften, hrsg. von Marie von Bülow, 8 Bde., Leipzig 1896-1908.
5. Eduard Hanslick (1825-1904), österreichischer Musikkritiker und -ästhetiker. Seine Schrift Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst , Leipzig 1854, hatte, über die direkte Auseinandersetzung mit der damaligen Programmmusik hinaus, weitreichendsten Einfluß auf die musikästhetischen Grundvorstellungen noch im 20. Jahrhundert. Sätze wie: „Das Componiren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material' oder „tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik" machten Musikgeschichte. Vgl. Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988, S. 291ff.
6. Joseph Weigl (1766-1846), österreichischer Singspiel- und Opern-Komponist; Peter von Winter (1754-1825), deutscher Komponist, schrieb u. a. ca. 40 Opern. Singspiele und Operetten; La Dame Blanche (UA 1825) war eine der letzten Opern von Francois Adrien Boieldieu (1775-1834) und ein ebensolcher Welterfolg wie Gioachino Rossinis (1792-1868) Il barbiere di Siviglia (UA 1816).
7. Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) demonstrierte seine zwischen 1762 und 1770 ausgearbeitete grundlegende Reform der ernsten italienischen Oper im Sinne einer Rückkehr zum dramatischen Prinzip, das die Musik in den Dienst der Handlung stellt, in seinen sog. Reformopern (u. a. Iphigenie en Aulide, Orphee. Alceste. Armide und Iphigenie en Tauride ; UA 1774-1779. alle Paris). Hieraus resultierte der berühmte Pariser Streit zwischen Glutkisten und Piccinisten, den Anhängern des italienischen Opernkomponisten Niccolb Piccinis (1728-1800), der 1776/77 kulminierte.
8. Draeseke beschreibt hier als, Verismus', was in moderner Terminologie Naturalismus' heißt: die ungeschminkte Wirklichkeitskopie insbesondere von bislang als nicht kunstwürdig geltenden Lebensbereichen des Volkes. Diese Strömung trat als gesamteuropäische zwischen 1880 und 1900 in allen Künsten auf und wurde zur Grundlage der Moderne. Naturalismus setzt Draeseke gleich mit Realismus, d. h. im Sinne von wirklichkeitsgetreuer Darstellung (s. die Beispiele von Cavalli und Wagner. die er gibt). Nach heutigem Sprachgebrauch ist “Verismo” die italienische Spielart des Naturalismus. In der Anwendung auf die Opern etwa Mascagnis (1863-1945). Leoncavallos (1857-1919) und Puccinis (1858-1924) ist der Begriff umstritten.
9. Pier Francesco Cavalli (1602-1676) war neben Monteverdi der wichtigste Vertreter der ersten Periode der venezianischen Oper.
10. Gerhart Hauptmanns (1862-1946) Drama Hanneles Himmelfahrt erschien 1894.
11. Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), von 1835 an Direktor der Leipziger Gewandhauskonzerte, wurde dank seiner überragenden Fähigkeiten in kürzester Zeit zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens der Stadt, die dadurch zu einem internationalen Musikzentrum aufstieg. Seine seit 1839 unternommenen Bemühungen führten 1843 zur Gründung des Leipziger Konservatoriums, der ersten Einrichtung dieser Art in Deutschland.
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